Jillian Hunter
du sie je kennengelernt?", fragte Chloe neugierig und w a n d t e sich vom Fenster ab, das nur einen enttäuschenden
Ausblick auf eine ganz und gar reiterlose Landschaft bot.
„Das habe ich natürlich nicht, Chloe."
Tante Gwendolyn zupfte die Vorhänge wieder zurecht. Sie wirkte empört über die Frage. „Pastor Grimsby hat sie einige Male gesehen. Sie stand an den Fenstern von Stratfield Hall, Chloe."
Chloe biss sich belustigt auf die Lippe. „Vielleicht hat der Viscount gerade Besuch von einer Schwester oder Tante." Tante Gwendolyns Gesicht war unter dem Puder rot gewor- den. „Ich glaube kaum, dass er sich mit einer weiblichen Ver- wandten so verhalten hätte, wie es der Pastor beschrieben hat."
„Hält er mitten in der Nacht wüste Orgien ab?" Chloe konnte der Versuchung nicht widerstehen, ihre Tante mit die- ser Frage zu necken.
„Ich habe nicht die geringste Ahnung", stammelte ihre Tan- te entrüstet. „Und ich will es auch gar nicht wissen", fügte sie hinzu, „und das solltest du auch nicht. Die Tatsache, dass ich spüre, dass auf Stratfield Hall etwas nicht in Ordnung ist, sollte uns Warnung genug sein, Chloe. Bei diesem Mann stimmt etwas nicht, lass dir das gesagt sein!"
Und vielleicht hätte Chloe auf sie hören sollen, anstatt zu lachen. Drei Wochen später war der Viscount in seinem Bett erstochen worden.
2. KAPITEL
Die Neuigkeit erschütterte das winzige Dörfchen Chistlebury bis in seine Grundfesten. Chloe, die anscheinend eine Unver- träglichkeit gegen saubere Landluft entwickelt hatte, litt an einer unangenehmen Bronchitis und konnte der Bestattung nicht beiwohnen. In Wirklichkeit war Dominic für sie schon vor seinem Tod zu einem Geist geworden, der ständig durch ihre Gedanken spukte. Sie hatte von jenem Kuss im Regen ge- träumt und sich vorgestellt, wie sie ihn wieder küsste - wenn sie sich nicht gerade schwor, ihn bei ihrer nächsten Begeg- nung zu brüskieren.
Nach der Beerdigung hatte sie zwei volle Tage lang in ih- rem Bett geweint und aus Gründen, die sie sich selbst nicht erklären konnte, um ihren unhöflichen, aber attraktiven Ret- ter getrauert. Sogar einen Eid hatte sie abgelegt, dass sie und ihre Familie eines Tages seinen Mörder finden würden. Ihre äl- teren Brüder - Grayson, Heath und Drake - hatten eine kur- ze Reise unternommen, um dem Verstorbenen ihren Respekt zu erweisen. Niemand schien die geringste Ahnung zu haben, wer Stratfield ermordet hatte. Sein Onkel Edgar war die wei- te Strecke von Wales herbeigereist, um Nachforschungen an- zustellen und die praktischen Belange zu regeln.
Doch der Pastor hatte durchblicken lassen, dass Stratfield in seiner Zeit im Krieg möglicherweise ein wenig Spionage betrieben hatte und dass vielleicht ein alter Feind zurückge- kehrt war, um ihn zu ermorden. Außerdem hatte die Anzie- hungskraft, die einige verheiratete Frauen angeblich auf ihn ausgeübt hatten, ihn auch nicht gerade beliebter gemacht. Er war ein Mann gewesen, der getan hatte, was er wollte, und offensichtlich hatte er es damit niemandem recht gemacht au-
ßer sich selbst. Kein Wunder, dass er nicht von vielen betrau- ert wurde.
Er war tot, und Chloe blieb keine andere Wahl, als ihn zu vergessen. Ohnehin wäre es nicht klug gewesen, ihn in seinen Avancen zu ermutigen. Er war ein Mann, der auf der dunklen Seite des Lebens gelebt hatte. Soweit sie es beurteilen konnte, hatte er möglicherweise sogar irgendetwas getan, um den Tod zu verdienen. Nach allem, was sie wusste, wäre er womöglich ihr Untergang gewesen. Und doch hoffte sie aus verschiede- nen Gründen, dass sein Mörder gefasst wurde.
Pamelas hohe Stimme brachte sie zurück in die weniger in- teressante Gegenwart. „Er kam, kurz nachdem ihr gegangen wart, hierher", flüsterte sie, als die beiden Chloes Schlafkam- mer betraten.
„Wer kam hierher?", fragte Chloe verdutzt, mit den Gedan- ken noch bei Stratfield.
„Dein Bruder natürlich."
Ein paar kurze Augenblicke lang hatte Chloe tatsächlich ge- glaubt, Pamela hätte den Geist von Stratfield gemeint. Aber so, wie die Dinge standen, konnte sie sich nicht den Luxus er- lauben, sich um die Toten zu sorgen. Die Lebenden waren es, die sie quälten. Genauer gesagt die Lebenden in Gestalt ihres Bruders Devon, der seit letztem Monat ein Flüchtling vor dem Gesetz war.
Auf dem Heimweg von einer Spielhalle in Chelsea hatten Devon und zwei seiner von sich selbst überzeugten Freunde eine Kutsche aufgehalten. Darin befand sich ihrer Meinung nach
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