Jillian Hunter
barbarische Hinterhalt auf seine Truppe stattfand, aber ich bete dafür, dass Sie und Ihre Familie Trost in der Tatsache finden, dass die Schuldigen
für ihr Verbrechen bezahlt haben."
Chloe starrte ihn in benommenem Schweigen an. Ihr Herz schien einen Schlag auszusetzen, einen schrecklichen Augen- blick lang war ihr die Kehle so eng, dass sie kaum sprechen konnte. „Ich verstehe nicht. Sie - Sie waren mit Brandon in Nepal?"
Betroffen musterte er sie. „Meine liebe junge Dame, wie dumm von mir, anzunehmen, dass Sie das wussten. Ihr Bru- der und mein Neffe Samuel dienten im Regiment der Com- pany unter meinem Befehl. Ich hatte sie zahllose Male vor den Gefahren gewarnt, die einem drohen, wenn man die ein- samen Pfade der Einheimischen patrouilliert, aber die muti- gen jungen Teufelskerle waren wie wild darauf versessen, ihre Tapferkeit unter Beweis zu stellen. Während ich geschäftlich unterwegs war, beschlossen sie, die Helden zu spielen."
„Das wusste ich nicht", murmelte sie. „Ich hatte keine Ah- nung." Es war nicht tröstlich, das zu wissen. Ganz im Gegen- teil, sie empfand es sogar als ziemlich beunruhigend.
Sir Edgar führte sie in das abgeschirmte Vestibül. Als Chloe ihre Fassung wieder gefunden hatte, bemerkte sie, wie ihre Tante die dorischen Säulen untersuchte, als erwarte sie, dass jeden Augenblick der Geist von Stratfield mit den Worten: „Überraschung! Ich bin es, der Hausgeist!" dahinter hervor- springen könnte.
Das Komische daran war, dass auch Chloe Stratfields An- wesenheit spüren konnte. Zumindest glaubte sie das. Da er kein echter Geist war, wusste sie nicht so recht, was sie davon halten sollte. Die Gefühle, die er in ihr auslöste, waren oft widersprüchlich und meist zu peinlich, als dass sie genauer darüber nachdenken wollte. Es war einfacher, anzunehmen, dass sie Angst vor ihm hatte, als zuzugeben, dass etwas viel Komplizierteres ihre Nerven zum Flattern brachte - etwas Verbotenes und irgendwie auch Köstliches.
Ja, seine Präsenz war in diesem Haus auf überwältigende Art und Weise spürbar: in der dunklen Eichenvertäfelung ebenso wie auf der Musikantengalerie oberhalb des Speise- saales. Chloe erwartete beinahe, dass seine kraftvolle Gestalt jeden Augenblick dramatisch auf der dunklen Eichentreppe erschien und allen befahl ...
„Ich war schon einige Male hier", flüsterte Onkel Humph- rey ihr über die Schulter zu. „Stratfield hat mich eingeladen, mit seinen Freunden jagen zu gehen und Karten zu spielen. Er war nicht so schlimm, wie alle glauben wollen, Chloe. Ganz bestimmt war er auch nicht der Lebemann, für den alle ihn halten. Dieses ganze Gerede über seinen Geist ..."
„Du glaubst nicht daran?", flüsterte sie.
„Natürlich nicht. Ich erinnere mich daran, wie die Leute frü- her getuschelt haben, dass in diesem Haus ein Priester spuken soll, der in einem Geheimgang gelandet ist und nicht mehr he- rausfand. Wenn hier jemand schlafende Frauen verführt, ist es vermutlich der Geist eines lüsternen alten Pfarrers."
Chloe drehte sich in der Halle um, in der sie standen. „Ein Geheimgang?"
„Ja. Erinnere dich an deinen Geschichtsunterricht, Chloe. Die Familie des Viscounts war ursprünglich römisch-katho- lisch. Die religiöse Verfolgung hat viele dazu getrieben, ihren wahren Glauben bis zum heutigen Tage zu verheimlichen."
Chloes Haut begann zu prickeln. „War Stratfield katho- lisch?"
„Das glaube ich nicht. Ich erinnere mich nur daran, dass er einmal beiläufig die Geschichte seiner Familie erwähnte."
Diese Entdeckung erschreckte Chloe, ohne dass sie wusste, warum. Was für eine Bedeutung hatte es schon, wenn Domi- nic einer Familie von Rebellen entstammte? Sie tat das auch. Aber es gefiel ihr, etwas mehr über ihn zu erfahren.
Sie aßen gegrillten Fasan mit Kräutern, Kartoffeln mit Petersilienbutter und Apfelküchlein mit Sahne. Ein Streich- quartett aus dem Dorf spielte mittelalterliche Melodien auf der langen Galerie über ihnen. Sir Edgar hätte als Gastge- ber nicht aufmerksamer sein können. Und doch fühlte Chloe sich nach wie vor unbehaglich. Edgar war beinahe zu höflich, schien sich in Dominics Rolle zu wohl zu fühlen. Und Bran- don hatte unter ihm gedient. Sie wollte mehr über ihren Bru- der erfahren, aber irgendein unbestimmtes Gefühl hielt sie davon ab.
Ihre Gedanken begannen abzuschweifen. Onkel Humphrey und Sir Edgar spekulierten gerade über die Zukunft der fran- zösischen Aristokratie. Sie stellte sich vor, wie Dominic
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