Jodeln und Juwelen
Sie. Als sie um den armen Albert trauerte, spürte
angeblich die ganze Bevölkerung ihre Schwingungen. Überall Kränze aus Haaren
und Trauerringe und dergleichen. Genau der richtige Nährboden für Geister. Auch
für solche, die schon wer weiß wie lange unbemerkt herumschweben.«
Mrs. Fath nahm einen Schluck Tonic zu
sich. »Ich will damit beileibe nicht sagen, dass es falsch ist, sich an liebe
Verstorbene zu erinnern. Und ich finde es auch ganz normal, dass man ein paar
Andenken an sie aufbewahren möchte. Aber der Unsinn, Tante Minnies Asche in der
Urne auf dem Kaminsims aufzustellen oder das Glas mit Omas Zähnen auf dem
Nachttisch neben ihrem Totenbett, nur damit die armen Angehörigen etwas haben,
das ihnen die Tränen in die Augen treibt, wenn sie nichts Besseres zu tun
haben, geht meiner Meinung nach entschieden zu weit.«
»Da bin ich ganz Ihrer Meinung.«
Emma dachte an Cousine Mabel in ihrem
riesigen Haus, das bis obenhin mit den Habseligkeiten ihrer verstorbenen
Verwandten voll gestopft war. Mabel hatte das Schlafzimmer ihrer Eltern nicht
angerührt, es war noch genauso, wie sie es verlassen hatten. Ob Mabel je
hineinging, um zu weinen, war etwas, das Emma nicht wusste und auch nicht
glauben würde, wenn man es ihr erzählte. Vor allem nicht, wenn Mabel selbst es
ihr erzählen würde. Schade, dass sie Mabel und Alding Fath nicht
zusammenbringen konnte. Vielleicht später, wenn sie die Insel wieder verlassen
hatten — plötzlich wurde ihr bewusst, dass sie tatsächlich mit dem Gedanken
spielte, die Hellseherin für ein Wochenende zu sich nach Pleasaunce einzuladen.
Und dass Mrs. Fath wusste, was sie dachte.
»Sie wissen noch nicht so genau, was
Sie von mir halten sollen, nicht wahr, Mrs. Kelling? Aber wenigstens jage ich
Ihnen keine Angst ein, wie manchen anderen Leuten, die einfach nicht verstehen,
dass telepathische Kräfte nichts Außergewöhnliches sind. In Wirklichkeit sind
sie eher wie der Blinddarm oder der kleine Schwanzansatz am Ende der
Wirbelsäule. Jeder wird damit geboren, doch wir brauchen sie nicht mehr, und
die meisten Menschen wissen nicht einmal, welchen Zweck sie ursprünglich
erfüllt haben.«
»Interessant.« Emma hatte
Schwierigkeiten, den Bezug zwischen dem Okkulten und ihrem Wurmfortsatz
herzustellen.
Mrs. Fath war durchaus gewillt, sie
aufzuklären. »In den Zeiten, als die Menschen nur ein gemeinsames großes Gehirn
besaßen, wenn ich es einmal so ausdrücken darf, und das Zeitkonzept noch nicht
als eine Art Metermaß entwickelt worden war, wurden alle Ideen und Erfahrungen
einfach in einen Topf geworfen und zusammen gekocht. Die Gedanken der anderen,
die eigenen Gedanken, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Wenn man eine
Information brauchte, griff man einfach in den Topf und zog das Gewünschte
heraus. Als das Leben anfing, komplizierter zu werden, kam immer mehr in den
Topf. Und es wurde immer schwieriger, das Richtige herauszufischen. Daher
wandte man sich an jemandem, der noch die Fähigkeiten dazu besaß, und ließ sich
von ihm helfen.«
»Sie meinen ein Orakel?«
»Oder einen Schamanen, einen
Medizinmann oder wie man sie auch nennen mag. Wir alle haben ein wenig vom Schamanen
in uns. Doch die meisten Menschen wollen es sich nicht eingestehen, daher
unterdrücken sie diese Fähigkeiten und wollen nichts damit zu tun haben. Sie
beispielsweise wären sicher sehr begabt, wenn Sie eine andere Erziehung
genossen hätten.«
»Glauben Sie?« Emma fühlte sich von
diesem zweifelhaften Kompliment, falls es denn ein Kompliment sein sollte,
merkwürdig geschmeichelt. »Man hat gelegentlich so seine Ahnungen.«
»Und ich wette, man hat gelernt, seinen
Ahnungen mehr zu vertrauen als seinem so genannten logischen Denken. Stimmt’s,
Mrs. Kelling?«
»Nun ja...« Emma stellte sich lieber
nicht vor, was Cousine Mabel wohl zu diesem Gespräch sagen würde. »Ich muss
zugeben, dass ich meistens bereue, wenn ich es nicht tue. Hat es bei Ihnen so
angefangen ? Dass Sie Ihren Ahnungen vertraut haben?«
»Mein Problem war, dass ich sie zu oft
hatte, und dass sie leider immer stimmten. Ich stamme aus einer streng
religiösen Familie. Meine Eltern wollten mit Teufelskram nichts am Hut haben,
wie sie sich ausdrückten. Daher habe ich entweder den Mund gehalten oder
zutiefst bedauert, dass ich es verdammt nochmal nicht getan hatte. Sie waren
sicher keine schlechten Menschen, aber sie hielten es für ihre Pflicht, mich
hart zu bestrafen. Ich fand es immer schrecklich, geschlagen zu
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