JörgIsring-UnterMörd
er seinen Bruder für dessen
Geschicklichkeit bewunderte. Wie Edgar sich mühelos mit beiden Händen aus dem
Wasser auf die Insel stemmte, nagte an seinem Selbstbewusstsein.
Als er sich erschöpft auf das warme Holz fallen ließ, lag Edgar schon in
der Sonne, die Arme weit ausgebreitet. Er sprach, ohne die Augen zu öffnen.
»Na, kleiner Bruder, auch schon da?«
»Du hast gepfuscht, du hast Anlauf genommen. Klare
Sache.«
Edgar kicherte. »Wer hat denn hier gepfuscht? Nicht mal auf ein Signal hast
du gewartet. Aber du siehst, dass es nicht immer was bringt, sich unrechtmäßig
einen Vorteil zu verschaffen.«
»Einen Versuch ist's schon wert. Vor allem gegen
dich.«
»Was soll das denn heißen?«
Richard antwortete nicht, weil er sich so bemüht hatte, den Moment
festzuhalten, sich jedes Detail einzuprägen. Die Sonne, die das Seewasser auf
ihrer Haut verdunsten ließ, den Wind, der sanft durch das Schilf strich, die
Insel, die leicht auf den von ihnen erzeugten Wellen schaukelte. In der
Rückschau verklärte sich die Szene für ihn zusätzlich, weil sie für ihn das
Ende seiner Unschuld und den Anfang seines Unglücks bedeutete. Hätte er Edgar
doch nie gefragt, hätte er ihn doch ziehen lassen in seine neue Welt, von der
sein Bruder sich so Großes versprach und die sie beide zum Niedrigsten machte,
was Menschen überhaupt sein können - zu Mördern und Monstern.
Damals hatte ihn die Neugier nicht ruhen lassen.
»Erzählst du's mir trotzdem?«
»Da gibt's nicht viel zu erzählen.«
»Kommt mir nicht so vor. Eher, als gäbe es zu viel zu erzählen.«
»Du hast ja keine Ahnung.«
»Das sollst du ja ändern. Am besten jetzt gleich.«
Edgar hatte den Kopf zu ihm herübergedreht, die Augen wegen der Sonne stark
zusammengekniffen. »Versprichst du mir, dass du den Eltern nichts erzählst? Die
würden es eh nicht verstehen oder es in den falschen Hals kriegen und mir den
Umgang verbieten. Ehrenwort?«
Auch Richard hatte sich umgedreht und seinen Bruder angesehen. »Du machst
es aber spannend. Ehrenwort, na klar.«
»Na gut. Ich habe bei Herrn Adolf Hitler unterschrieben, bei der
Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei.«
»Bei dem Bierkelleragitator?«
Damals hatte Richard es erst nicht fassen können. Sein hinter jedem
Rockzipfel hinterherjagender Bruder war ein Anhänger dieses österreichischen
Nationalisten, der im Münchner Bürgerbräukeller regelmäßig gegen die Regierung
wetterte. Seine NSDAP galt als ein Haufen ungehobelter Burschen, die gerne mit
dem Knüppel argumentierten. Hitler wurde eher belächelt als einer, den die
stürmische deutsche Geschichte an die Oberfläche gespült hatte und der genauso
schnell wieder in den Fluten verschwinden würde. Ausgerechnet den himmelte
Edgar nun an wie eines seiner willigen Mädchen.
Richard musste
lachen. »Was willst du mit Adolf Hitler? Der hat doch nur eine große Klappe und
ist dabei ungefähr so aufregend wie Vater, wenn er wieder mal über das Leben
doziert.«
Edgar furchte entrüstet die Stirn. »Du bist ein Blödmann. Hitler kämpft
dafür, dass Deutschland wieder mit erhobenem Haupt dasteht in Europa. Dass die
Franzosen aus unserem Land verschwinden und uns nicht aussaugen wie eine
Zecke. Dass es ein Ende hat mit den verbrecherischen Forderungen des Versailler
Vertrages. Dass die Juden aus der Regierung verschwinden.«
Richard erkannte seinen Bruder kaum wieder. Nie zuvor hatte er Derartiges
aus dessen Mund gehört; nun rezitierte Edgar Parteiprogramme, als hätte er nie
etwas anderes als Politik im Sinn gehabt. Richard schaute noch einmal zu Edgar
hinüber, aber der hatte sein Gesicht wieder gen Himmel gedreht und sprach mit
geschlossenen Augen - als würde er beten.
»Einmal die Woche
treffen sich die Kameraden in München, reden darüber, was verändert werden
muss. Ich war dabei, und ich habe Hitler sprechen hören. Der Mann ist eine
Offenbarung, Richard, seine Stimme geht dir bis ins Mark, und was er sagt, ist
so überzeugend, so unerhört, so unverblümt, so ...«, Edgar rang nach den
richtigen Worten, »so wahr. Hitler ist unsere Hoffnung, die Hoffnung aller
Deutschen, die wieder in einem starken Land leben wollen. Er hat Visionen, und
er weiß, wie man sie umsetzt. Schon folgen ihm ein paar Tausend Kameraden, und
täglich werden es mehr. Noch steht hinter ihm eine kleine Armee, aber bald ist
es das ganze Volk. Und ich bin einer, der von Anfang an dabei ist, Richard. Ich
habe bei ihm unterschrieben, und jetzt bin ich
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