John Grisham
Erbrochenem, Urin, Blut und ihren eigenen Exkrementen. Der Gestank lässt meine Knie weichwerden, obwohl ich schon die erstaunlichsten Gerüche überlebt habe. Weil ich solche Situationen kenne, reagiere ich instinktiv. In aller Eile zücke ich meine kleine Kamera, mache vier Bilder, stecke den Fotoapparat wieder ein und hole Hilfe. Miss Daphne Groat ist nirgends zu sehen, und ansonsten schläft in diesem Flügel alles.
Es ist kein Pfleger vor Ort. Vor achteinhalb Stunden, als unsere Schicht anfing, hat sich am Empfang, wo ich mich zu der Zeit aufhielt, eine Frau namens Rita gemeldet, die dann Kurs auf den hinteren Flügel genommen hat. Sie hatte allein Dienst, was gegen die Vorschrift ist, weil hinten zwei Pfleger erforderlich sind. Jetzt ist Rita verschwunden. Ich sprinte zum Nordflügel, schnappe mir einen Pfleger namens Gary, und gemeinsam treten wir in Aktion. Wir ziehen Gummihandschuhe, Mundschutz und Stiefel an, heben Miss Harriet eilig vom Boden auf und legen sie ins Bett. Sie atmet noch, wenn auch nur schwach, und über ihrem linken Ohr klafft eine Platzwunde. Gary säubert sie, während ich die Hinterlassenschaften vom Boden aufwische. Als der gröbste Dreck beseitigt ist, rufe ich Schwester Angel und Königin Wilma an. Inzwischen sind andere aufgewacht und haben sich um uns versammelt.
Rita ist nirgends zu sehen. Zwei Pfleger, Gary und ich, für zweiundfünfzig Bewohner.
Wir verbinden die Wunde, ziehen Miss Harriet saubere Unterwäsche und ein Nachthemd an, und während Gary an ihrem Bett Wache hält, husche ich ins Stationszimmer, um mir die Akte anzusehen. Sie hat seit dem Mittagessen am Vortag nichts zu essen bekommen - das sind nahezu achtzehn Stunden -, und um ihre Medikamente hat sich auch keiner gekümmert. In aller Eile kopiere ich sämt li che Notizen und Einträge, denn ich bin mir sicher, dass sie in wenigen Stunden frisiert sein werden. Die Fotokopien falte ich zusammen und stecke sie in die Tasche.
Der Krankenwagen kommt, Miss Harriet wird eingeladen und weggebracht. Schwester Angel und Mrs. Drell stecken nervös die Köpfe zusammen und fangen an, in den Papieren zu blättern. Ich gehe in den Südflügel zurück und schließe das Beweismaterial in einer Schublade ein. In wenigen Stunden werde ich es mit nach Hause nehmen.
Am nächsten Tag taucht ein Mann von irgendeinem Regionalbüro auf und will von mir wissen, was passiert ist. Er ist kein Anwalt, die sind erst später an der Reihe, und nicht besonders helle. Zunächst einmal erklärt er Gary und mir, was wir seiner Meinung nach in dieser Krisensituation gesehen und getan haben, und wir lassen ihn reden. Schließlich versichert er uns, dass Miss Harriet ordentlich mit Nahrung und Medikamenten versorgt war - steht alles in den Unterlagen - und Rita nur kurz zum Rauchen gegangen war, wobei ihr schlecht wurde, so dass sie für einen Augenblick nach Hause fahren musste, um dann bei ihrer Rückkehr die »unglückliche« Situation mit Miss Harriet vorzufinden.
Ich stelle mich dumm, das ist meine Spezialität. Gary auch; ihm fällt das leichter, aber er macht sich auch Sorgen um seine Stelle. Ich nicht. Endlich verschwindet der Idiot in dem Glauben, er hätte in unserer kleinen Hinterwäldlerstadt wieder einmal mit seinem meisterhaften Können eine Krisensituation entschärft, wie sie die HVQH Group nur allzu gut kennt.
Miss Harriet liegt eine Woche mit einem Schädelbruch im Krankenhaus. Sie hat eine Menge Blut verloren, und ihr Gehirn ist vermutlich noch weiter in Mitleidenschaft gezogen, aber wie will man das beurteilen? Auf jeden Fall gibt es in den richtigen Händen Stoff für ein höchst aussichtsreiches Gerichtsverfahren.
Da solche Klagen sehr beliebt sind und über den Pflegeheimen ständig die Geier kreisen, muss schnell gehandelt werden, das weiß ich aus Erfahrung. Mein Anwalt ist ein alter Freund namens Dexter Ridley aus Tupelo, an den ich mich im Bedarfsfall wende. Dex ist etwa fünfzig, hat schon einige Ehen und Leben hinter sich und vor ein paar Jahren beschlossen, dass beurkundete Verträge und einvernehmliche Scheidungen nicht zum Überleben reichen. Also hat er die nächste Stufe erklommen und ist nun Prozessanwalt, wobei er nur selten vor Gericht geht. Sein wahres Talent besteht darin, dass er auf hohe Summen klagt und dann herumeiert, bis sich die andere Seite auf einen Vergleich einlässt. Überall im nördlichen Bundesstaat Mississippi hängen Plakate mit seinem lächelnden Gesicht.
An meinem freien Tag fahre ich nach
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