John Wells Bd. 1 - Kurier des Todes
Stattdessen fuhr er zielstrebig weiter nach Hamilton.
Als Wells Salmon erreichte, die letzte richtige Stadt vor Hamilton, war die Sonne schon untergegangen. Deshalb hielt er an und nahm sich im Stagecoach Inn ein Zimmer für zweiundvierzig Dollar. Noch drei Stunden trennten ihn von Hamilton, und er wollte seine Mutter nicht in der Nacht wecken.
Salmon war eine verschlafene Westernstadt, deren Hauptstraße aus einer Reihe niedriger, abgewohnter Ziegelhäuser bestand. Auf der Suche nach etwas Essbarem landete Wells im Supper Club and Lounge, einer Bar mit einer Karaokemaschine und Rinderschädeln als Dekoration an der Wand.
»Was darf ich Ihnen bringen?«, erkundigte sich der Barkeeper.
Der fettige Geruch von gegrilltem Fleisch ließ Wells das Wasser im Mund zusammenlaufen.
»Einen Burger«, sagte er. Auch wenn das Fleisch sicher nicht halal war – also nach den Regeln des Korans geschlachtet, die festlegten, dass das Tier vollständig ausbluten musste –, konnte Wells der Versuchung einfach nicht widerstehen. Er erinnerte sich nicht einmal mehr, wann er das letzte Mal einen Hamburger gegessen hatte. Und plötzlich symbolisierte diese fehlende Erinnerung alles, was er in den zehn Jahren des Kriegs zurückgelassen hatte.
Der Burger wurde rasch serviert. Während er langsam kaute, um jeden Bissen voll auszukosten, hörte er einer gut vierzigjährigen Frau zwei Stühle weiter zu, die mit einem alten Mann scherzte, der eine Mütze der Minnesota Timberwolves trug. »Fischen ist fast besser als Fallschirmspringen«, erklärte sie. »Und das ist um einiges besser als Sex. Vor allem, wenn du so alt bist wie ich.« Dabei lachte sie, sodass auch Wells lächelte. Als sie seinen Blick auffing, hob sie die Augenbrauen, kam auf ihn zu und streckte ihm die Hand entgegen. »Evelyn.« Sie hatte blondes Haar mit Strähnen und ein breites hübsches Lächeln.
»John.«
»Singen Sie, John?«
»Nein, Ma’am«, antwortete Wells, in dessen Stimme plötzlich ein wenig Country-Akzent mitschwang.
»Sie wollen mir doch nicht weismachen, dass Sie nicht singen? «
»Ich habe eine grauenvolle Stimme.«
Wortlos tätschelte sie seine Hand und wandte sich an den Barkeeper. »Leg uns ›You Are So Beautiful‹ auf.«
Er hatte gewiss nicht die Absicht, für diese Frau zu singen, und glücklicherweise musste er das auch nicht. Denn Evelyn gab das Lied selbst zum Besten, wobei ihre Stimme über die Noten glitt wie ein Wagen auf einer vereisten Straße. Was
ihr an stimmlichem Talent fehlte, machte sie durch ihren Auftritt wett, indem sie sich die Hüften schwingend zu ihm beugte und bei den letzten Tönen das Mikrofon mit beiden Händen umfasste. »You … are … so … beautiful … to … me …« Sobald sie endete, johlte das halbe Dutzend Kneipenhocker, und auch Wells fühlte, wie sich sein Mund zu einem breiten Grinsen verzog. Das war das erste echte Lächeln seit viel zu langer Zeit. Sie verbeugte sich und kam wieder zu seinem Stuhl zurück.
»Sie waren großartig«, sagte er.
»Jetzt sind Sie dran.«
Wells schüttelte ablehnend den Kopf.
»In Ordnung, dann eben etwas später«, wischte sie das Thema vom Tisch. »Was führt Sie nach Salmon?«
»Ich bin nur auf der Durchreise«, antwortete Wells. »Auf dem Weg nach Missoula.«
»Und woher kommen Sie?«
Genau davor hatte er sich gefürchtet. Vielleicht versuchte sie nur, freundlich zu sein, oder vielleicht war sie einfach nur gelangweilt und suchte nach etwas Spaß an diesem Dienstagabend. Er sollte nicht so nervös sein. Selbstverständlich wäre es leicht gewesen, sie anzulügen und vielleicht sogar mit dieser Frau nach Hause zu gehen. Aber er wollte nicht lügen. Nicht in der Nacht, bevor er seine Familie wiedersah.
»Ich muss jetzt gehen«, sagte er.
»Hey, ich beiße nicht«, erklärte sie augenzwinkernd, während sie ihm die Hand auf den Arm legte. »Und ich mag Sex in jedem Fall lieber als Fallschirmspringen.« Wells errötete, während ihn ihre Worte gleichzeitig erregten. Er hatte vergessen, wie schamlos amerikanische Frauen sein konnten.
»Ich muss morgen wirklich früh aufstehen.«
»Wie auch immer.« Damit ging sie davon. Nachdem Wells
den letzten Bissen seines Burgers gegessen hatte, fuhr er die drei Häuserblöcke zurück zum Stagecoach Inn. Auf dem Parkplatz des Motels hätte er beinahe umgedreht und wäre zur Bar zurückgefahren. Er konnte das Gefühl von Evelyns Hand auf seinem Arm nicht vergessen. Seine Haut schien an der Stelle zu brennen, wo sie ihn
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