John Wells Bd. 1 - Kurier des Todes
er langsam zur Tür und läutete. Ein kleiner Junge öffnete. »Ist deine Mutter hier?«, erkundigte sich Wells.
»Mom!«, rief der Junge, während er davonstürmte.
Dann hörte er, wie sich Heather mit dem leichten Schritt ihrer kleinen Füße der Tür näherte.
»Ja?«, fragte sie, während sie die Kette zurückschob und die Tür öffnete. Sie war noch genauso hübsch, wie er sie in Erinnerung hatte. Ein echtes Country-Girl mit honigblondem Haar, tiefbraunen Augen und einer zierlichen Figur. Einfach perfekt. Er hatte sie bei weitem überragt und es genossen, sie hochzuheben und in ihr Bett zu tragen, wo sie sich leidenschaftlich geliebt hatten. Dennoch hatte es immer einen Bereich seines Wesens gegeben, zu dem sie keinen Zugang hatte. Nachdem er zur CIA gegangen war, hatten sie sich auseinandergelebt. Als er ihr sagte, dass er in den Untergrund gehen würde und nicht wüsste, wann er zurückkehren würde,
hatte sie ihm ein Ultimatum gestellt: der Job oder ich. Der Job oder Evan, der damals gerade zwei Jahre alt geworden war. Sie sagte ihm auch, dass sie nicht auf ihn warten würde. Und sie hatte auch nicht auf ihn gewartet, was er ihr nicht einmal übel nehmen konnte.
Als sie ihn sah, riss sie die Augen auf und stieß einen kehligen Laut aus – halb Seufzer und halb Stöhnen. Dann öffnete sie den Mund, als wollte sie etwas sagen, und schloss ihn wieder.
Zögernd willigte sie in seine Umarmung ein und drückte ihn halbherzig, wobei sie sorgsam darauf achtete, dass sich ihre Hüften nicht berührten.
»John«, sagte sie schließlich.
»Darf ich hineinkommen?«
Mit einer Handbewegung lud sie ihn in das Wohnzimmer ein, das sehr hübsch ausgestattet war. Auf dem Couchtisch lagen ein paar Kinderbücher und an den Wänden hingen Porträts aus dem 19. Jahrhundert, die Perücken tragende Männer in Roben zeigten. Dieses Leben hatte keine Anknüpfungspunkte zu seinem. Während er an seiner Wange kaute, überlegte er, was er sagen sollte.
»Was ist mit denen?«, fragte er, indem er auf die Porträts zeigte. Als er erkannte, dass er bereits einen Fehler begangen hatte, versuchte er, es weniger feindselig zu formulieren. »Ich wollte sagen, sie sind hübsch.«
»Howard ist Anwalt.«
»Howard?«
»Mein Mann.« Dabei deutete sie auf ein Foto, das Heather mit einem beleibten, aber attraktiven Mann zeigte, der Howard sein musste, und davor Evan und zwei kleinere Kinder. Einen Jungen und ein Mädchen. »Das sind George und Victoria. Howard hat ein Faible für das englische Königshaus.«
»Und du?«
Sie schüttelte bloß den Kopf. Aber das war nicht die Antwort auf seine Frage. »Als du nicht zu Monas Begräbnis gekommen bist, habe ich geglaubt, dass du tot bist.«
»Pech gehabt.«
»Sie hat dich vermisst, John. Sie hat immer daran geglaubt, dass du zurückkommst.«
»Davon wusste ich nichts.«
»Haben sie dir das nicht über euer Superagentenradio gesagt? Haben sie dir kein Bat-Signal geschickt, damit du nach Hause kommst?«
Wells versuchte, nicht daran zu denken, wie seine Mutter noch im Tod in ihrem Krankenhausbett auf ihn gewartet hatte, und dann einfach gestorben war.
»Tut mir leid, John. So habe ich es nicht gemeint. Aber du warst schon immer ein Muttersöhnchen, deshalb dachte ich, wenn du noch irgendwo auf diesem Planeten bist, würdest du zurückkommen.«
»Ich habe mich nie als Muttersöhnchen gesehen«, wehrte er ab. Obwohl er nicht ableugnen konnte, dass es zu seinen schönsten Erinnerungen zählte, wie er in der Küche seiner Mutter beim Backen zusah, während Herbert im Krankenhaus operierte, oder in seinem Arbeitszimmer las. »Vielleicht war ich das«, gestand er lächelnd ein. »Das ist also dein Leben? «
Über ihr Gesicht glitt ein Ausdruck, den er nicht deuten konnte. »Das ist mein Leben. Verheiratet, drei Kinder, gelangweilt. «
»Heather …«
»Bitte sag nicht, was du sagen wolltest.«
»Darf ich Evan sehen?«
»Er trainiert im YMCA für die Unterliga.«
»Er spielt Baseball?«
»Drittes Base. Aber er weiß nicht einmal, wer du bist, John.«
Wells fühlte sich, als hätte sie ihn geschlagen. »Ich sage dir etwas. Bleib ein Jahr hier, sei ihm wirklich ein Vater, mach was mit ihm. Wenn du willst, kannst du ihm auch dein Spionagezeug beibringen.«
»Heather …«
»Sechs Monate?« Pause. »Einen Monat? Ist dir dein Sohn einen Monat wert, John?«
Wells schwieg. Sie hatte recht. Er konnte seinem Sohn nicht einmal erzählen, wo er gewesen war und was er getan hatte. Und was, wenn
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