John Wells Bd. 1 - Kurier des Todes
starrte Wells auf Kennys perfekte Zähne, die als Kind noch verdreht und unregelmäßig gewesen waren. Mit diesen Zähnen könntest du für Crest werben, dachte Wells. Offenbar hattest du keinen afghanischen Zahnarzt. Aber was tust du in meinem Haus?
Wie gern wäre Wells seinem Spitznamen in diesem Moment gerecht geworden. Unwillkürlich ballte er die Hand
zur Faust, während er auf Kenny und seine weißen Zähne sah. Aber das alles war nicht Kennys Schuld. Kenny war ein netter Junge.
»Sie liegt in Lone Pine«, fuhr Kenny fort. »Bei deinem Vater.«
»Ich weiß, wo meine Familie begraben ist, Kenny. Ken.«
»Tut mir leid, John«, antwortete Kenny. »Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Darf ich dich auf einen Kaffee einladen?«
Aber Wells hatte sich schon umgewandt.
Während er über die Bundesstraße 93 zum Lone-Pine-Friedhof in Darby fuhr, liefen ihm Tränen über die Wangen. Wells konnte sich nicht erinnern, wann er das letzte Mal geweint hatte oder wann er sich gewünscht hätte zu weinen. Aber jetzt weinte er lautlos. Er hatte sich nie erlaubt, daran zu denken, dass seine Mutter vielleicht … gestorben war. Verschieden. Eingegangen in die große Prärie am Himmel. Ha! Der war gut, John.
Sie konnte nicht gestorben sein. Immerhin war er bis ans Ende der Welt gegangen, ohne zu sterben. Sie hingegen hatte nichts anderes zu tun gehabt, als mit ihren Freunden Bridge zu spielen und die Blumen im Garten rund um ihr großes altes Haus zu pflegen. Sie konnte einfach nicht gestorben sein.
Der Beweis, dass sie tatsächlich tot war, fand sich in dem Grabstein aus Granit, den Wells im hinteren Bereich des Friedhofs fand. Mona Kesey Wells, 1938 – 2004. Geliebte Ehefrau und Mutter, verehrte Lehrerin. Ein in Stein gemeißeltes Kreuz. Sein Vater lag neben ihr: Herbert Gerald Wells, 1930 – 1999. Mit geschlossenen Augen kniete Wells nieder in der Hoffnung, ihre Anwesenheit zu spüren, oder irgendetwas zu spüren. Schließlich murmelte er die 82. Sure des Korans, die vom Jüngsten Tag spricht:
Wenn der Himmel sich spaltet
und wenn die Sterne zerstreut sind
und wenn die Meere über die Ufer treten
und wenn die Gräber ausgeräumt werden
dann wird jede Seele wissen, was sie getan
und was sie unterlassen hat …
Aber er hörte nur den Verkehr, der auf der Bundesstraße 93 vorbeirollte, und die amerikanische Flagge des Friedhofs, die in der Morgenbrise flatterte. Und auch wenn Wells wusste, dass er sich bei Gott nicht über die Einsamkeit beschweren durfte, die ihn ergriffen hatte, konnte er nicht anders. Gott, oder Allah, oder wie auch immer er hieß, hatte ihn genau in dem Augenblick verlassen, als er ihn am meisten brauchte.
Schließlich ging Wells an das Ende des Friedhofs, das durch keinen Zaun gekennzeichnet war. Hier hörten die Gräber einfach auf, und ein paar Meter weiter fiel das Gelände zu den Eisenbahngleisen ab. Während er so lange nach Osten in die Sonne schaute, bis ihm die Augen brannten, glaubte er zu sehen, wie sich sein Glaube auflöste, aus ihm herausströmte und mit dem Wind davonschwebte. In der Ferne ertönte die Pfeife einer Lokomotive, doch der erwartete Zug kam nicht. Als er zum Wagen zurückging, fühlte er sich so leer wie nie zuvor.
Während er langsam nach Missoula hineinrollte, versuchte er, das Gefühl loszuwerden, dass er diese alberne Reise abbrechen und nach Washington fahren sollte. Missoula war noch schneller gewachsen als Hamilton. Dort, wo Wells mit seiner Familie ausgeritten war, krochen nun die Vororte an den Hängen der Hügel empor. Seine Mutter hatte es geliebt zu reiten. Seine Mutter. Wieder stiegen ihm Tränen in
die Augen, doch er kämpfte sie zurück. Immerhin hatte er diese Jahre einem guten Zweck gewidmet. Niemand innerhalb der Al-Quaida hätte ihm vertraut, wenn er aus eigenem Antrieb in die USA zurückgekehrt wäre. Seine Mutter hatte seine Entscheidung, Soldat zu werden, nie in Frage gestellt. Deshalb musste er jetzt seine Gefühle wieder unter Kontrolle bringen, um zu tun, was er tun musste. Er wusste nicht, wie er ihr sonst seine Ehre erweisen könnte.
Langsam lenkte er den Wagen durch die Stadt. Von Heather wusste er zumindest, dass sie noch lebte, denn er hatte sie von New York aus angerufen. Als sie abhob, hatte er aufgelegt. Aus irgendeinem Grund hatte er sich plötzlich ein wenig schäbig gefühlt.
Vor einem netten zweigeschossigen Haus hielt er an. Als er Heathers Zuhause betrachtete, wusste er, dass er nicht willkommen sein würde. Trotzdem ging
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