John Wells Bd. 3 - Stille des Todes
wütend an und ging betont langsam davon.
Während Wells Victor nachsah, hörte er im Geiste Johnny Cashs Stimme. I hear the train a-comin’, it’s rollin’ round the bend …
3
Der Komplex von Majak bedeckte eine Fläche von Hunderten von Hektar, umfasste Dutzende von Gebäuden und wurde durch drei verschiedene Sicherheitszonen geschützt. Für Ausländer, wie für die meisten Russen, war nicht nur Majak Sperrgebiet, sondern auch Ozersk, die Stadt, in der die Anlage lag. Während der Sowjetzeit war Ozersk auf keiner Karte zu finden gewesen. Die Stadt hatte noch nicht einmal einen Namen gehabt, sondern war nur als Tscheljabinsk-65 bezeichnet worden, weil sie fünfundsechzig Kilometer von der Provinzhauptstadt Tscheljabinsk entfernt lag. Nach dem Zusammenbruch der UdSSR hatte die russische Regierung die Existenz von Ozersk zugegeben und Ausländer in die Stadt gelassen. Aber nun zog ein neuer Kalter Krieg - oder zumindest ein Kalter Frieden - herauf, und der Kreml hatte die Tore von Ozersk und anderen Atomstädten wieder geschlossen.
Natürlich gelang es immer wieder Außenstehenden wie Jussuf, sich mit gefälschten Ausweispapieren durch die Kontrollpunkte am Stadtrand zu schmuggeln und so nach Ozersk zu gelangen. Die Anlage hatte ihre eigene Sicherheitstruppe, einen Elektrozaun und Überwachungskameras an jedem Eingang. Eine weitere Sicherheitsmaßnahme war, dass nur Führungskräfte wie Grigorij mit dem Auto
ins Werk fahren durften. Die gewöhnlichen Angestellten parkten außerhalb des Zauns und bewegten sich innerhalb des Komplexes mit Bussen fort.
Schließlich gab es noch eine dritte Zone mit Zäunen, Wachen und grellen Scheinwerfern um den »Sonderbereich«, die Depots, in denen die Gefechtsköpfe lagerten. Dieses Gebiet durften nur Mitarbeiter betreten, die seit mindestens fünf Jahren dabeiwaren. Außer den Lkws der Konvois waren hier keine Fahrzeuge erlaubt. Die Leitung der Anlage saß direkt außerhalb des Sonderbereichs in einem dreistöckigen Betonklotz, der mit den schmalen, tiefliegenden Fenstern wie ein Hochsicherheitsgefängnis aussah.
Grigorij Farsadow fuhr mit seiner Wolga-Limousine von der vierspurigen Straße ab, die vom Eingangstor der Anlage zum Sonderbereich führte, und rollte auf den Parkplatz der Zentrale. Im Gegensatz zu den Spitzenmanagern hatte er keinen eigenen Parkplatz, aber da er nachts arbeitete, fand er immer einen Platz in der Nähe des Eingangs. Das war auch gut so, da der Parkplatz von November bis April mit einer etwa zwei Zentimeter dicken Eisschicht aus Wasser, Dreck, Sand und Schmiere bedeckt war. Jedes Jahr stürzte Grigorij mindestens ein Mal schwer und landete mit schmerzenden Knien oder Handgelenken auf dem Boden. Ein Wunder, dass er sich bisher nichts gebrochen hatte. In dieser verfluchten Gegend war sogar das Gehen eine Qual. Wenn heute Nacht alles nach Plan lief, würde er sich mit Jussufs Geld irgendwohin absetzen, wo es warm war und wo er nicht sechs Monate im Jahr Handschuhe tragen musste. Falls alles nach Plan lief. Und Jussuf ihn danach nicht umbrachte.
Hinter der Eingangstür stand ein gelangweilter Posten, der einen kurzen Blick auf Grigorijs Ausweis warf und ihn durchwinkte. Der Mann hieß Dimitrij. Er und Grigorij waren vor fünfzehn Jahren etwa zur selben Zeit eingestellt worden. Die lange Betriebszugehörigkeit von Leuten wie Grigorij und Dimitrij war für die Sicherheit in Majak ebenso wichtig wie Kameras und Zäune. Kein neuer Mitarbeiter durfte auch nur in die Nähe der Depots. Allerdings hatte diese Vertrautheit auch ihre Nachteile. Die Insider konnten sich kaum vorstellen, dass einer der Ihren zu Diebstahl oder Sabotage fähig war. Heute Nacht würde Grigorij diese Blindheit nutzen.
»Guten Abend«, sagte Grigorij. »Wie geht’s so?«
»Wie immer, danke. Und bei dir?«
»Diese Kälte macht mich fertig. Ich freue mich auf den Frühling.«
»Jetzt schon?«
»Jeden einzelnen Tag«, erwiderte Grigorij. Dann fiel ihm Michail ein, und ihn fröstelte. Mit diesen drei Wörtern hatte er seinen Nachbarn zu einem elenden Tod verurteilt.
Wie immer war Grigorij früh dran. Ein paar Minuten lang befasste er sich mit Papierkram, dann ging er zum Büro von Garry Pliakow, dem stellvertretenden Betriebsleiter. Pliakow hatte die Oberaufsicht über den Umgang mit jeglichem Sondernuklearmaterial - ein Begriff, den sowohl Russen als auch Amerikaner für Plutonium 239 und Uran 235 verwendeten, die beiden Atome, die den Kern aller Nuklearwaffen
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