John Wells Bd. 3 - Stille des Todes
volllaufen ließ und jammerte, weil er es nie zum Detective bringen würde. Der drittklassige Dichter, der bei Starbucks seinen Cappuccino schlürfte und lamentierte, weil er keinen Verlag fand. Und Wells, der des Lebens überdrüssige Spion, der Benzin vergeudete und sich in Selbstmitleid erging. Ich habe die Welt gerettet, und alles, was ich dafür bekommen habe, war dieses Scheiß-T-Shirt. Normalerweise hörte er im Geiste Musik, wenn er Motorrad fuhr, aber heute wollten selbst Asphalt und Wind nicht zu ihm sprechen.
Zu allem Überfluss war Wells nicht warm genug angezogen und konnte den Lenker kaum halten. Das Narbengewebe an seinem Rücken war zu einem einzigen Eisblock gefroren, und seine schlimme linke Schulter, die die Chinesen vor einigen Monaten malträtiert hatten, drohte aus dem Gelenk zu springen. Er war keine Maschine, auch wenn er gern so tat. Und jeder ihm das abzunehmen schien.
Im Licht des Scheinwerfers seiner Honda tauchte ein Schild auf, das eine Ausfahrt in zwei Kilometern ankündigte.
Er schloss die Augen und zählte bis zehn. Dann noch einmal bis fünf. Eins … zwei … drei … vier … fünf. Bevor er in seiner Blindheit vom Weg abkam, sah er auf. Er war fast einen Kilometer weit gefahren. Er ging vom Gas und schaltete in den vierten Gang zurück. Die schnelle Maschine unter ihm lag fest auf der Straße. Was immer man ihm vorwerfen mochte, Motorradfahren konnte er. Am Ende der Ausfahrt bog er nach links ab und fuhr unter dem Highway hindurch. Er hatte jenseits des Highways das Schild einer Restaurantkette entdeckt. Jetzt zu Denny’s, das klang verlockend.
Das Restaurant war leer, bis auf einen Tisch mit Teenagern, die Witze über irgendetwas rissen, was heutige Teenager witzig fanden. Die Jungen trugen das Haar kurz geschoren, und die Mädchen hatten Sweatshirts an, die selbst für Wells altmodisch aussahen. Sie lebten mit Sicherheit weiter draußen an der Interstate 66, vielleicht sogar irgendwo an der Interstate 81. Im Süden und im Westen war man schnell im ländlichen Virginia.
Einer der Jungen bückte sich und spuckte in eine Coladose unter dem Tisch. Er trug ein T-Shirt der US Marines, das sich über seiner Brust spannte. Wells hätte ihn gern gefragt, ob er sich wirklich freiwillig gemeldet hatte und wenn ja, warum, was er beim Militär zu finden hoffte. Aber er hielt den Mund. Die Welt brauchte Soldaten, und wenn der Junge einer werden wollte, konnte Wells ihm schlecht abraten.
Niemand nahm von ihm Notiz, und er war dankbar dafür.
Die Kellnerin kam an seinen Tisch. Sie war etwa fünfundfünfzig, hatte die Lederhaut der Raucher, braune Augen und hängende Schultern. Ihre Füße steckten in bequemen
schwarzen Schuhen. Als sie ihm ein Glas Wasser hinstellte, lächelte sie ihn an, ein breites, herzliches Lächeln. Wells fühlte sich wie ein Idiot. Die Frau lebte wahrscheinlich in einem Trailer irgendwo oben in den Bergen, weil sie sich nichts anderes leisten konnte, und gab sich trotzdem Mühe, ihn aufzumuntern.
Sie warf einen Blick auf den Helm. »Alles in Ordnung? Ziemlich kalt zum Motorradfahren.«
»Allerdings.«
»Sie können ruhig hier bleiben, bis Ihnen warm wird. So lange Sie wollen.«
»Sehe ich so schlimm aus?«
»Nur müde. Was kann ich Ihnen bringen?«
Wells bestellte Kaffee und Rührei mit Kartoffeln. Ein Menü wie der Grand Slam war nichts für ihn, weil er kein Schweinefleisch aß - ein Überbleibsel aus seiner Zeit als Muslim. Dafür gönnte er sich einen Schoko-Milkshake. Das Essen kam schnell. Die Fahrt hatte seinen Appetit geweckt. Der Milkshake war im Handumdrehen geleert, und das Essen verputzte er bis auf den letzten Krümel. Die Kellnerin - ihr Name war Diane - hielt Wort. Sie schenkte ihm Kaffee nach, ließ ihn aber ansonsten in Ruhe über die letzten Tage nachdenken.
Am Morgen nach dem Blutbad aus Russland auszureisen war kein Problem gewesen. Der Beamte in Scheremetjewo hatte in seinem amerikanischen Pass geblättert und ihn kurz gemustert. Das frisch gebügelte Hemd und die TAG-Heuer-Uhr, die Wells’ Tarnung vervollständigte, überzeugten ihn offenbar davon, dass er es mit einem ganz gewöhnlichen Amerikaner zu tun hatte. Wortlos stempelte er den Pass, und Wells konnte gehen.
Bei seiner Ankunft in New York sah die Sache anders aus. Sobald die Beamtin am JFK Airport seinen Pass gescannt hatte, wusste er, dass etwas faul war. Ihr Lächeln erstarb und kehrte dann mit verstärkter Strahlkraft zurück. Vermutlich, um ihn abzulenken, bis die
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