Joli Rouge (German Edition)
an Antoine
heranzukommen.
»Ihr könnt heute sterben oder Euer Leben erst in Maracaibo
verlieren. Entscheidet selbst!«, drohte dieser und ließ ein
Wurfmesser in seiner Hand aufblitzen.
Pierre ignorierte die Waffen. Wenn es Jacquotte war, würde
sie ihn nicht töten. Behutsam stellte er seinen Fuß auf das
Plateau und erhaschte dabei einen Blick auf die gezackte
Narbe, die sich über Antoines linken Arm zog. Sein Herz
setzte einen Schlag aus. Diese Narbe war ihm so vertraut wie
Tierra Grande.
»Keinen Schritt weiter!« Antoine ließ das Messer
spielerisch kreisen. Pierre behielt es achtsam im Auge,
während er den zweiten Fuß nachzog. Doch er hatte seinen
Gegner unterschätzt. Mit einer kaum wahrnehmbaren Bewegung
warf Antoine das Messer, und Pierre spürte einen brennenden
Schmerz im Oberschenkel. Fluchend sackte er zusammen, bevor
er das Messer aus dem Muskel zog. Blut durchtränkte
augenblicklich seine Hose und schwärzte seinen Blick.
Instinktiv sprang er zurück auf die Beine.
»Euer Können ist beachtlich. Warum habt Ihr mich nicht
getötet? Es wäre Euch zweifelsfrei gelungen.« Er fand die
Augen, die ihn bis in seine Träume verfolgt hatten, und biss
sich auf die Zähne. Es gab keinen Zweifel. Er kannte die
Augen, auch wenn ihm der Mann fremd war.
Die Blicke ineinander verschlungen, standen sie sich
gegenüber. Pierre sah das Mädchen, das ungezwungen mit ihm
scherzte, die junge Frau, die verbissen mit ihrer Machete
übte und die rote Peitsche, die stolz an der Seite des
Totenkopfs segelte. Er konnte es nicht fassen. Seine
Vermutung traf zu. Sie war nie mit der
Fortune Noire
untergegangen. Er hatte sie umsonst betrauert! Die
Verbitterung wurde übermächtig. Das Blut seiner Wunde
tropfte zu Boden und schwächte ihn. Er war unfähig, sich zu
bewegen. Auch Antoine rührte sich nicht, und Pierre glaubte,
die Pistole einen kurzen Moment zittern zu sehen. Er wollte
gerade ansetzen, etwas zu sagen, doch Antoine schüttelte
kaum merklich den Kopf.
»Ihr seid ein Dummkopf, Picard«, sprach er. »Ihr macht
Euch die falschen Leute zu Feinden. Geht und macht Euer
Schiff seeklar oder Ihr werdet zu Fischfutter.« Antoine
legte das Schloss der Pistole zurück und steckte sie in den
Gürtel. Hinter seinem Rücken tauchte L’Olonnais auf. Er zog
die Oberlippe hoch, als er das Blut an Pierres Bein
bemerkte, und kam näher.
»Hat Euch mein Wachhund in Eure Schranken gewiesen,
Picard? Ihr solltet in Zukunft vorsichtiger sein. Eure Worte
und Taten sprechen gegen Euer Bündnis mit mir. Es wäre
schade, wenn Euer Schiff den Golf von Maracaibo nicht
erreichen würde.«
Er lächelte unheilvoll. Mit einer schnellen Bewegung stieß
er Pierre den Knauf seiner Pistole in den verwundeten
Oberschenkel und sprang behände den Felsen hinab, bevor sein
Gegenüber reagieren konnte. Pierre stöhnte auf, als der
Schmerz in sein Bewusstsein drang.
»Ihr ehrt den Kodex und folgt diesem Mann?«, flüsterte er
gepresst. Antoine, der zurückgeblieben war, sah ihn
teilnahmslos an.
»Ich folge nur mir allein«, entgegnete er, bevor er sich
dem Olonnaisen anschloss. Pierre sank zu Boden und starrte
ihm nach, doch Antoine drehte sich nicht mehr zu ihm um.
Als die sieben Schiffe einige Tage später in See stachen,
pochte Pierres Wunde am Oberschenkel noch und meißelte ihm
Antoines letzten Satz beharrlich ins Gedächtnis. Er hatte
einen Wundarzt angeheuert und ihm zweihundert Achterstücke
zusätzlich versprochen, wenn er den Schmerz zu lindern
vermochte, aber die Künste des Arztes waren gering, und
Pierre hatte vermehrt den Verdacht, dass es weniger die
Wunde war, die ihm zusetzte, als vielmehr die Erkenntnis,
die in ihm heranreifte wie eine pralle Pomeranze. Jacquotte
lebte, doch sie war eine andere geworden. Er ertappte sich
bei dem Gedanken, dass er sie lieber in Erinnerung behalten
hätte, wie er sie einst gekannt hatte, als mitzuerleben,
welche Kreatur die Vergangenheit aus ihr geformt hatte. Ihre
Haare! Sie hatte sich den Schädel rasiert, um ihr
untrügliches Erkennungsmerkmal loszuwerden. Und sie wusch
sich offensichtlich nur noch selten, um ihre Gesichtszüge
und die charakteristischen Sommersprossen durch Dreck und
Schmutz unkenntlich zu machen. Pierre verstand ihre Taktik,
auch wenn ihm ihre Beweggründe fremd blieben. Er stierte auf
die
La Poudrière
, das wuchtige Schiff des Olonnaisen, das
backbord voraus das Geschwader anführte. Er hatte L’Olonnais
an
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