Jonathan Harkan und das Herz des Lazarus (German Edition)
Familie zerstören.«
Dankbar legte sie ihren Kopf an seine Schulter. Ihre Lippen formten stumme Worte, die er mit einem Kuss erwiderte. Dann löste er sich aus ihren Armen und ging in sein Arbeitszimmer. Die Situation war ernst, das spürte Jonathan. Er beschloss, seinem Vater nicht von der Seite zu weichen, bis er ein paar Antworten von ihm hatte.
»Wo gehen wir hin?«, fragte er.
»Darüber können wir nachdenken, wenn wir im Auto sitzen und genügend Luft zwischen uns und dieses Haus gebracht haben.«
»Du weißt es selber nicht?«
»Zuerst einmal müssen wir hier weg. Sofort!«
Cornelius riss Schubladen auf, kramte Dokumente hervor – Pässe, Urkunden, Zeugnisse – und warf sie wahllos in einen geöffneten Koffer. Sie waren auf der Flucht. Ordnung spielte keine Rolle mehr. Jonathan beobachtete es mit wachsender Unruhe.
»Es ist meine Schuld, nicht wahr? Ich hätte euch nicht folgen dürfen.«
Cornelius legte ihm die Hand auf die Schulter. »Nein, Jonathan. Wenn überhaupt, dann ist es meine Schuld. Du hast recht, ich hätte dir längst die Wahrheit sagen müssen. Als ich so alt war wie du, habe ich immer geglaubt, die Erwachsenen wüssten genau, was sie tun. Aber in Wahrheit sind wir nur alt gewordene Kinder. Wir machen Fehler und hoffen, dass es niemand bemerkt. Ich war nicht ehrlich zu dir, weil ich der Meinung war, dass ich dir damit ein normales Leben ermögliche. Etwas, das ich nie hatte. Jetzt weiß ich, dass es falsch war, dich zu belügen. Ich mache es wieder gut, das verspreche ich.« Er warf einen nervösen Blick auf die Uhr. »Aber jetzt müssen wir von hier verschwinden!«
Jonathan sah ihn an. »Wir kommen nicht zurück, oder?«
Sein Vater schloss die Augen und schüttelte den Kopf. »Nimm Kleidung mit, vor allem warme! Und nur das Allernötigste! Wir fahren in fünf Minuten.«
»Warme Kleidung? Aber es ist Sommer!«
»Tu, was ich sage! Wir haben jetzt keine Zeit für Diskussionen.«
Mit klopfendem Herzen rannte Jonathan in sein Zimmer, zerrte seinen Trekking-Rucksack unter dem Bett hervor und stopfte sein Handy, sein mit Stickern beklebtes Notebook, T-Shirts, Hosen und warme Pullis hinein. In den Seitentaschen war noch Platz für ein paar persönliche Sachen. Es war keine leichte Entscheidung, die Dinge auszuwählen, die ihn auf die Reise ins Unbekannte begleiten sollten, und alles andere zurückzulassen. Schnell war der Rucksack so schwer, dass er ihn kaum noch tragen konnte. Dabei fehlte das Wichtigste: das gläserne Messer. Jonathan wollte es auf keinen Fall verlieren. Er stopfte es zwischen seine Wäsche, sodass es vor neugierigen Blicken geschützt war. Mühsam bugsierte er den Rucksack auf die Schultern und trug ihn zur Haustür. Als er ihn absetzen wollte, hörte er die Stimme seines Vaters.
»Bring ihn gleich zum Wagen. Halt, warte! Ich werde den Kofferraum packen, sonst gibt es nur wieder Chaos.«
Als Jonathan das Haus verließ, schlug ihm eisiger Wind entgegen. Fröstelnd blickte er in den Himmel und erschrak. Über den Dächern ihres Viertels türmten sich Wolken zu einem wuchernden Ungetüm auf, dunkel wie eine Faust aus Granit. Blitze zuckten aus dem Inneren hervor, Donner rollte über ihn hinweg. Es war Juli, Gewitter waren in dieser Jahreszeit nichts Ungewöhnliches. Trotzdem gefiel Jonathan das Schauspiel nicht. Irgendetwas war seltsam an diesem Unwetter. Es war viel zu kalt für diese Jahreszeit. Er beschloss, seine Eltern zu warnen. Je schneller sie hier weg waren, desto besser. Cornelius wuchtete das Gepäck in den Kofferraum.
»Schatz, wo bleibst du?«, rief er nach oben. »Ich habe alles gepackt. Den Rest können wir zur Not kaufen. Komm jetzt, ich bitte dich!« Helena gab keine Antwort. Entnervt warf Cornelius einen Blick auf seine Uhr. »Jonathan, sieh nach deiner Mutter. Sag ihr, dass wir uns beeilen müssen.«
Jonathan fand Helena im Schlafzimmer. Sie hatte geweint, doch ihre Tränen waren dem Entsetzen gewichen. Starr blickte sie aus dem Fenster. Dort draußen fiel Schnee. Innerhalb von Sekunden verwandelte sich das Sommergewitter in einen Schneesturm, der Wolken wirbelnden Schnees durch die Straßen peitschte und alles unter einem Mantel aus Kälte begrub. Das Leben erstarrte, und der Himmel verdunkelte sich, bis der Tag zur Nacht wurde. Cornelius kam dazu, fassungslos.
»Sie sind hier!«, flüsterte Helena. »Cornelius, sie sind bereits hier.«
Cornelius packte Jonathans Hand und zerrte ihn hinter sich her. Sie stolperten die Treppen hinab und liefen
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