Jonathan Harkan und das Herz des Lazarus (German Edition)
größer als der Kopf eines Kindes. Und es schwebte in der Luft.
»Heiliges Kanonenrohr«, flüsterte Eliane. »Das schlägt dem Affen den Zahn aus. Hast du so was schon mal gesehen?«
»Noch nie!«, sagte Jonathan atemlos.
Sie gingen um das Kästchen herum und begutachteten es von allen Seiten. Da war nichts, was es hielt, kein Faden, keine Stange, keine trickreiche Vorrichtung.
»Muss eine Art Magnetfeld sein«, vermutete Eliane.
Jonathan berührte das Kästchen vorsichtig mit seinem Finger. Es bewegte sich keinen Millimeter. Er schüttelte den Kopf. »Völlig unmöglich.«
Am Schloss des Kästchens blitzte ein winziges goldenes Herz, durchbohrt von einem goldenen Schwert. Jonathan spürte, wie sich die Haare auf seinen Armen aufrichteten.
»Das Herz des Lazarus!«, flüsterte er.
Eliane sah ihn verständnislos an. Sie hatte keine Ahnung, wovon er sprach. Jonathan war sich völlig sicher. Das musste es sein! Das, was Riot im Austausch für das Leben seiner Mutter wollte. Das, was alle fürchteten und begehrten.
Staunend blickte Eliane auf sein Eyn, das blau aufleuchtete.
»Was ist mit deinem Armreif?«
Nervös sah Jonathan sich um. »Wir sind in Schwierigkeiten!«
Er bedeutete ihr, still zu sein. Dann hörten sie es: das leise Beben von Schritten. Wie die, die Jonathan im Kohlenkeller gehört hatte. Was auch immer ihm dort aufgelauert hatte, jetzt war es wieder da – und suchte sie. Das blaue Licht seines Eyn wurde blendend hell.
»Irgendetwas kommt auf uns zu! Schnell, wir müssen uns verstecken!«
Sie rannten zur spiralförmigen Treppe und kletterten auf allen vieren nach oben, bis sie eine schmale Balustrade erreicht hatten. Der Länge nach legten sie sich auf den Boden.
»Schalte die Taschenlampe aus«, zischte Eliane. »Und sorg dafür, dass dein Armreif verschwindet. Du leuchtest wie ein Weihnachtsbaum.«
Jonathan bedeckte das Eyn mit seiner Jacke, bis sie völlige Dunkelheit umgab. Da war nichts mehr als das Klopfen ihrer Herzen und das Geräusch der Schritte im Korridor. Schwer, federnd, wie die Pranken eines Bären. Jonathans Fantasie erwachte wieder und malte sich die schauerlichsten Gestalten aus. Er zitterte vor Angst. Mit einem gewaltigen Schlag wurde die Tür aufgestoßen. Er schloss die Augen und betete, dass er sich nicht durch eine unachtsame Bewegung verriet.
Was auch immer sie verfolgt hatte, jetzt war es im Turm. Es verharrte. Ruhiger, rasselnder Atem war zu hören. Dann wieder Schritte. Der Boden ächzte darunter. Die Gestalt musste riesig sein, viel schwerer als ein Mensch. Sie ging im Turm umher, als ob sie etwas suchte. In diesem Moment spürte Jonathan, dass ihm sein Rucksack langsam vom Rücken rutschte. Er hatte ihn in der Eile über die Schulter geworfen, ohne sich die Gurte anzulegen. Wenn er zu Boden fiel, würde sie das Geräusch unweigerlich verraten. Er wagte kaum zu atmen, als er die Augen öffnete. Fahles Licht glomm von unten und ließ die Schatten tanzen. Langsam lockerte er seine Hand und streckte sie nach hinten, um den Rucksack festzuhalten. Schweiß perlte ihm über die Stirn. Seine Finger berührten den Gurt und verloren ihn wieder. Der Rucksack glitt ab und fiel zwischen den Streben der Balustrade in die Tiefe. Mit einem dumpfen Knall landete er auf dem Boden. Schreckerstarrt blieb Jonathan liegen. Sein erster Impuls war die Flucht, doch was immer sie auch verfolgte, es war um vieles schneller und stärker. Mit einem einzigen gewaltigen Satz war die Gestalt am Treppenabsatz. Ein zweiter und sie stand vor ihnen. Jonathan sah Klauen, Zähne und wütend funkelnde Augen. Eine Stimme so tief wie ein Brunnen fuhr ihn in völlig unverständlichen Lauten an, ein Donnern und Beben.
Eliane war starr vor Angst. Ihre Finger krallten sich in die Fugen zwischen den Dielen, als suchte sie nach irgendetwas, das ihr Halt gab. Als das Wesen begriff, dass seine Sprache für sie unverständlich war, grollte es einen Laut hervor, der wie ein fremdartiger Fluch klang, und plötzlich konnten sie es verstehen:
»Wer seid ihr? Was sucht ihr hier? Redet, wenn euch euer Leben lieb ist!«
Eine Pranke drückte Jonathan zu Boden, sodass er kaum genug Luft zum Sprechen hatte.
»Ich bin Jonathan … Jonathan Harkan…«
Die Pranke ließ ihn los. Er fand eine Sekunde, um Atem zu schöpfen, und sah in die Augen eines riesigen Geschöpfes. Es war ein Wesen, wie er es nie zuvor gesehen hatte, ein Raubtier mit filziger Mähne, fingerlangen Zähnen und messerscharfen Krallen. Auf den
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