Jonathan Harkan und das Herz des Lazarus (German Edition)
da keiner rein.«
Eliane beleuchtete ihr Gesicht von unten, sodass es zu einer gespenstischen Fratze mutierte. »Vielleicht war ja auch die ganze Zeit jemand hier.«
Jonathan konnte nicht darüber lachen. »Wer auch immer hier geputzt hat, es ist wahrscheinlich besser, wenn wir ihm nicht über den Weg laufen.«
Sie gingen durch eine Pforte und betraten einen Teil des Hauses, der schlichter eingerichtet war. Prunk und Pomp wichen der funktionellen Gemütlichkeit eines Gesindehauses. Hier hatten Menschen gelebt und gearbeitet. Jonathan berührte die Sandsteinwände, als ob er den Herzschlag des Hauses spüren wollte. Links von ihnen befand sich eine Küche mit einem riesigen Holzofen, in dem noch die Asche des letzten Festmahls lag. Rechts ein Esszimmer mit großem Tisch und zahllosen Stühlen, die noch immer an der Stelle standen, an der sie zuletzt benutzt worden waren.
Eliane ließ einen Laut des Erstaunens hören. Über dem Tisch nahe dem Kachelofen hingen zahllose alte Fotos. Mit klopfendem Herzen ließ Jonathan das Licht seiner Taschenlampe über die Gesichter der Menschen streifen, die darauf abgebildet waren. Manche der Fotos waren so alt wie die, die er in der Obstkiste in Cassius’ Keller gefunden hatte. Er sah seine Urgroßeltern, Verwandte und Freunde, deren Namen längst erloschen waren. Er sah seine Urgroßmutter Valerie Seite an Seite mit Theodor Harkan. Auf dem Bild waren beide noch jung und voller Leben. Sie lachten. Auf allen Fotos wurde gelacht. Das Haus mochte einsam und verlassen wirken, aber es war einmal ein Ort der Fröhlichkeit gewesen.
»Das ist meine Familie«, stellte er atemlos fest. »Sie haben wirklich hier gelebt …«
Auf leisen Sohlen setzten sie ihre Erkundungstour fort, kehrten in den Gästetrakt zurück und gingen zum Ende des Korridors, wo sie eine breite Flügeltür erwartete. Ihr Knauf hatte die Form eines Drachenschädels. Als Jonathan sie öffnete, wehte ihnen kalter Wind entgegen, und ein hoher Raum öffnete sich vor ihnen. Sie befanden sich im höchsten Turm des Anwesens, der so groß war, dass sich seine Spitze in der Finsternis verlor. An den Wänden waren Regale mit Büchern, alt und kostbar.
»Nicht schlecht …«, staunte Eliane.
»Nicht schlecht? Das kannst du laut sagen.« Jonathan vergaß alle Vorsicht und zog mehrere Bücher hervor. Einige von ihnen stammten aus dem Mittelalter und enthielten Illustrationen, die Mönche in ihren Schreibstuben gefertigt hatten, andere aus späteren Jahrhunderten, der Renaissance und der frühen Neuzeit. Wieder andere waren in einer Schrift verfasst, die er nie zuvor gesehen hatte, und enthielten Zeichnungen fremdartiger Kreaturen, die dem Hirn eines Verrückten entsprungen sein mochten. Welch literarische Schätze sich hier verbargen! Nur mühsam konnte Jonathan seine Begeisterung im Zaum halten.
»So etwas habe ich noch nie gesehen. Sieh nur …«
Er schlug ein Buch auf und deutete auf eine herrlich illustrierte Doppelseite. Zwei gehörnte Kreaturen tanzten um ein Feuer. Auf der nächsten Seite waren Gewächse abgebildet, die in allen Farben des Regenbogens schimmerten und deren Blätter in Klauen mündeten.
In einem anderen Buch, das einer Enzyklopädie glich, waren fischähnliche Kreaturen beschrieben, die keinerlei Ähnlichkeit mit einem auf Erden lebenden Wesen hatten.
»Ziemlich verrückt, wenn du mich fragst«, murmelte Eliane.
»Das sind Teile von Lexika. Und Reiseberichte.«
»Ja, Reiseberichte aus dem Märchenland.«
»Vielleicht wurden sie nach den Geschichten angefertigt, die Seeleute von ihren Reisen mitgebracht haben. Stell dir nur mal vor, wie alt diese Bücher sind!«
Sie zuckte mit den Schultern. »Bücher sind Futter für Ratten. Aber der Turm hier gefällt mir. So etwas als Werkstatt, das wäre mein Traum.«
»Du würdest tatsächlich die ganzen Bücher rauswerfen und hier eine Werkstatt einrichten?«
»Na klar.«
»Weißt du was, Eliane? Eigentlich bist du ein Junge.«
Sie wollte etwas Scharfzüngiges erwidern, doch plötzlich wurde ihr Gesicht starr. Jonathan befürchtete schon, dass sie ihm seine Sticheleien übel genommen hatte, bis auch er es sah. Der Lichtkegel seiner Taschenlampe hatte eine Skulptur erfasst, die am Ende des Raumes stand.
Aus einem Podium aus Stein krochen Schlangen und Drachen empor, die der Bildhauer so kunstvoll gearbeitet hatte, dass sie fast lebendig wirkten. Darüber befand sich ein hölzernes Kästchen mit einem schlichten mechanischen Schloss aus Gold. Es war kaum
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