Jonathan Harkan und das Herz des Lazarus (German Edition)
Jahreszeiten spielen, wenn er irgendwo auftaucht?«
»Er sagt, die Kälte ist sein Verbündeter. Sie lähmt seine Gegner.«
»Und warum kann nicht Hitze sein Verbündeter sein? Herrliche Sommerhitze, die alles verdorren lässt.«
»Seppuku, du bist ein Schwätzer! Was ist das überhaupt für ein dämlicher Name, Seppuku?«
»Mein Kampfname. Hab ich mir selbst gegeben.«
»Und was hat das zu bedeuten? ›Langhaariger Schwachkopf‹?« Er lachte, als hätte er eine besonders geistreiche Bemerkung von sich gegeben.
Seppuku sah das offensichtlich anders, denn er riss den Dickwanst zu Boden, setzte sich auf ihn und hielt ihm kichernd eine rasiermesserscharfe Klinge unter die Nase. Panisch versuchte der Dicke ihn abzuschütteln. »Mach keinen Blödsinn, Mann«, rief er.
Beruhigend streichelte Seppuku sein Gesicht. »Was das für ein Name ist? Kann ich dir sagen, Fettsack: Wenn ein japanischer Samurai seine Pflicht verletzt hatte, gab es für ihn nur eine Möglichkeit, die Ehre für sich und seine Familie wiederherzustellen: Seppuku, der rituelle Selbstmord. Die Krieger nahmen ihr Schwert und dann …« Sein Messer beschrieb eine Kurve, die dicht oberhalb des Bauchnabels begann und unter dem Schulterblatt des Dicken endete. Jonathan beobachtete es nervös, bereit zum Eingreifen. Doch der Wirrkopf hatte seine Demonstration beendet und half seinem bleichen Kameraden auf die Füße. »Jetzt weißt du’s. Und ich hab immer noch Hunger.«
»Ach, komm schon, wir müssen weiter«, knurrte der Dicke und ging voraus. Seppuku folgte ihm und kratzte sich kichernd durch die verlausten Haare.
Jonathan konnte sehen, dass beide Schusswaffen unter ihren Jacken trugen. Er musste an den Rat seines Vaters denken, diese Männer nicht zu unterschätzen. Lautlos wagte er sich aus seinem Versteck und lief davon. Je eher er aus dem Dorf verschwand, desto besser. Aber zuvor musste er noch einen kleinen Umweg machen. Auch wenn es verboten war.
* * *
Schnee knirschte unter Jonathans Stiefeln, und jeder seiner Atemzüge wurde von Dampfwölkchen begleitet. Sein Blick fiel in den dunklen Himmel, der sanfte weiße Flocken fallen ließ. Mit schnellen Schritten stapfte er durch die Gassen. Sein Weg führte quer durch das Dorf, doch er begegnete keinem einzigen Bewohner. Was war nur mit all den Menschen geschehen? Waren sie verschwunden? Oder sogar tot? Vorsichtig blickte er durch die Fenster. Dann sah er sie: Sie lagen auf dem Boden, hockten in ihren Sesseln oder hingen in ihren Stühlen, wächsern, leblos wie Marionetten, die ihr Puppenspieler zur Seite gelegt hatte. Fröstelnd wandte Jonathan sich ab. Im Schutz der Bäume beschleunigte er seine Schritte und hielt auf den Vierkanthof zu, der am Ortsrand lag.
Auch Elianes Zuhause schlief unter einem Mantel eisiger Stille. Die Kühe lagen auf dem Stallboden und rührten sich nicht. Als Jonathan die Hand auf ihre Leiber legte, stellte er fest, dass sie warm waren. Sie lebten, wenn auch schwach. Fast schien es so, als ob sie in einem Traum gefangen waren. Er ließ die Stallungen hinter sich und betrat das Haus. Türen und Fenster standen weit offen. Niemand im Dorf hatte das Unheil kommen sehen; die Menschen waren einfach an Ort und Stelle eingeschlafen. Er sah Elianes Vater, ein großer grauhaariger Mann mit jugendlichem Gesicht und schwieligen Händen. Eingesunken saß er am Esstisch. An seinem Finger hing noch die Tasse, aus der er getrunken hatte. Der Schlaf hatte ihn hinterrücks überfallen. Jetzt lag er reglos in der Kälte, und eine Eisschicht bedeckte die Oberfläche seines Tees. Leise schloss Jonathan die Fenster und drehte die Heizung auf. Sein Herz schlug schneller, als er die graue Gestalt bemerkte, die sich aus dem Dunkel des Korridors näherte. Schmerzhaft pochte die Angst in seiner Brust. Auch wenn es schwerfiel, er blieb ruhig und tat so, als ob er nichts bemerkt hatte. Ruhig legte er eine Decke über Elianes Vater. In einer Spiegelung konnte er beobachten, dass sich die fremde Gestalt näher an ihn heranschlich. Sie hielt einen Prügel in der Hand, den sie zum Schlag erhob, nicht ahnend, dass Jonathan auf sie vorbereitet war: Als sie nahe genug an ihn herangekommen war, warf er der Gestalt die Decke ins Gesicht und überwältigte sie. Er wollte ihr gerade ein Nudelholz über den Schädel ziehen, als er plötzlich ein wütendes Keuchen hörte. Diese Stimme kannte er doch!
»Eliane? Du bist wach.«
Sie riss sich die Decke vom Kopf, rot vor Zorn. »Offensichtlich, Blitzbirne!
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