Jones, Diana Wynne
im Palast war und er es geschafft hatte, sie zu finden.
Im Palast herrschten Ungewissheit, Flüstern und Unentschlossenheit. Nur eins stand fest: Hadd war tot und Harl nun Graf von Holand. Damit war jedoch schon alles gesagt. Niemand wusste, ob ein Aufstand begonnen hatte, ob man die gute Kleidung ausziehen oder anbehalten sollte oder was aus dem vorbereiteten Festmahl wurde. Harl brütete. Noch keinen einzigen Befehl hatte der neue Graf gegeben. Harchad kam und ging und erteilte ununterbrochen Anweisungen, doch keine davon schien zu irgendetwas zu führen.
»Na, wenn das so ist, kann es schon einmal keinen Aufstand gegen«, sagte Hildy recht schnippisch, nachdem Ynen ihr berichtet hatte, wie es im Palast zuging. »Wir sehen nur Soldaten, die hierher zurückkehren. Niemand rückt aus.« Am liebsten wäre sie allein gewesen, doch Ynen wirkte so verloren, dass sie bei ihm blieb. Gemeinsam strichen sie durch Korridore und Treppenhäuser, und ständig trafen sie Menschen, die genauso wenig wie sie wussten, was sie tun sollten.
Ynen berichtete Hildy einige der Gerüchte, die über den Mörder kursierten. Er sei gefasst worden; man habe ihn nicht einmal gefunden. Er sei ein unzufriedener Seemann; er sei ein gefährlicher Aufrührer und stehe im Sold des Nordens. Er sei ein Meisterschütze; er sei ein Narr, der einen Glückstreffer gelandet habe; er habe eine neuartige Geheimwaffe aus dem Norden benutzt. Er habe sich vergiftet; er sei ins Wasser gesprungen und entkommen. Niemand wusste, was davon die Wahrheit war. »Jetzt erzähl doch, wie ist es am Hafen gewesen?«, drängte Ynen.
»Ich kann’s dir nicht sagen«, entgegnete Hildy aufrichtig. »Du weißt doch, wie es ist, wenn Harilla hysterisch wird.« Trotzdem versuchte sie zu beschreiben, was geschehen war. Schließlich war es nicht Ynens Schuld, dass er das Spektakel verpasst hatte.
»Das hat Vater wirklich alles getan?«, fragte er dann. »Ich hätte nicht gedacht, dass er sich so schnell bewegen kann.« Traurig fügte er hinzu: »Ich wünschte, ich hätte den Jungen gesehen, der die Rassel unter Großvaters Nase herumgewirbelt hat.«
»Es war nicht so lustig, wie du denkst«, sagte Hildy. »Es… es war eigenartig. Er ist nicht davongelaufen. Ich nehme an, sie haben ihn mittlerweile gefangen.« Sie fand, dass sie wirklich allein sein wollte, und ging in ihr Zimmer. Doch als Ynen ihr trotzdem folgte, brachte sie es nicht übers Herz, ihn fortzuschicken. Er setzte sich mit angezogenen Knien auf die Fensterbank, während sie sich im Schneidersitz auf ihrem großen, breiten Bett niederließ.
Zum hundertsten Mal versuchte Hildy, sich über ihre Gefühle klar zu werden. Es war fürchterlich, dass ihr Großvater ermordet worden war. So viel stand fest. Außerdem war es ein furchtbarer Zeitpunkt, um ihn zu töten. Jeder wusste, dass es entsetzlich großes Pech bedeutete. Hildy wurde gewahr, dass ihr die Art, wie Navis versucht hatte, die Lage zu retten, weit mehr Unbehagen als Stolz einflößte. Niemand hatte wahrgenommen, was er getan hatte, und das beunruhigte sie. In Bezug auf den eigentlichen Mord aber empfand sie nur Ehrfurcht und Respekt – und zugleich beruhigte er ihr Gemüt, sodass sie sich sanft und leise bewegte und allein sein wollte. Sie vermisste eine starke Empfindung, obwohl sie sich sehr darum bemühte, und das war merkwürdig, denn sie wusste, dass sie irgendwo tief in ihrem Innern wegen irgendetwas sehr stark empfand. Sie zerbarst fast vor Gefühlen, aber sie konnte nicht sagen, worin diese Gefühle bestanden. Es erinnerte sie an die Art, wie sie empfunden hatte, als ihr Vater ihr eröffnete, dass sie mit Lithar verlobt worden sei.
Hildy sprang auf. »Warte«, befahl sie Ynen, als er sich ebenfalls erhob. Ynen setzte sich seufzend wieder hin, und Hildy eilte zu den Räumen ihres Vaters.
Sie klopfte an die schwere Tür. Niemand öffnete oder bat sie hinein. Ein wenig zögernd drückte sie die Klinke und trat ein. Das erste Zimmer war leer. Sie ging ins zweite.
Navis saß, noch immer im Festkostüm, am Fenster. Vielleicht versuchte auch er sich über seine Gefühle klar zu werden. Auf jeden Fall las er nicht in dem Buch, das er in der Hand hielt. Er starrte auf den Koog hinaus.
Auf einen Blick sah Hildy, dass er sich wieder in Kühle, Trägheit und Stolz zurückgezogen hatte. Niemand konnte hoffen, ihn zu irgendetwas zu veranlassen, was nicht unbedingt getan werden musste. Hildy knirschte vor Wut mit den Zähnen. Wie konnte er bei dem
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