Joshua Schreck: Fischer. Nur für Jungs (German Edition)
der gerade gesprochen hatte.
Es war Phineas Vex. So aus der Nähe wirkte er irgendwie anders. Die Narbe trat deutlich hervor, wie ein Band, das um seinen kahlen Schädel lief. Die Augenklappe schimmerte in dem Licht, das von oben herabfiel. Sein anderes Auge – das gute – zuckte hin und her, bis es mich fand. Dann konzentrierte er sich auf mich, und das Auge wurde ganz schmal, als er sprach.
»Lauf!« Obwohl seine Stimme ganz ruhig war, schien das Wort in meiner Brust zu vibrieren. »Flieh nach draußen! Schnell!«
Vex hob seinen Stock und schwang ihn in Richtung der Rauch-Gestalt. Ich konnte nicht sehen, was als Nächstes passierte, denn ich lief schon zu meinen Eltern.
Mom und Dad nahmen mich in die Arme.
»Ich bin so froh, dass du in Sicherheit bist«, flüsterte mir Mom ins Ohr.
»Aber was wird aus Vex?« Ich wand mich in ihren Armen, um nach hinten zu schauen. Was ich sah, lief mir wie ein eisiger Schauer den Rücken herunter.
Vex befand sich im Griff der Rauch-Gestalt und hing etwa dreißig Zentimeter über dem Boden. Seine Beine schwangen schlaff unter seinem Körper wie die einer übergroßen Stoffpuppe. Sein Stock fiel zu Boden.
»Wir können ihn doch nicht einfach zurücklassen!«, schrie ich und versuchte mit aller Gewalt, mich aus den Armen meiner Eltern zu befreien.
Doch je mehr ich mich wehrte, desto stärker zogen sie mich fort. Ich schaute mich um, suchte etwas – irgendwas –, das ich dem widerlichen Ding entgegenschleudern konnte. Doch es war schon zu spät. Der Rauch hatte Vex umschlossen, eine chaotische Masse wirbelnder Finsternis. Im nächsten Moment gab es in der Wolke einen Blitzschlag.
Und dann war Vex verschwunden.
»Wir müssen hier raus.« Moms Stimme war ruhig und entschlossen. »Sofort.«
Ich spürte, wie ich fortgezogen wurde. Mit meinen Eltern an beiden Seiten, stolperte ich über die zerstörten Ruinen der zusammengebrochenen Verkaufsstände.
Auf halbem Weg zum Ausgang blieb Dad plötzlich stehen und hätte mich dabei fast zu Boden geworfen. Mit dem Handschuh fasste er schnell in einen Trümmerhaufen und schob, was immer er dort entdeckt hatte, vorsichtig in einen Beutel, der an seinem Mehrzweckgürtel hing, ehe ich auch nur einen Blick darauf werfen konnte.
Dann rannten wir weiter und liefen durch die brennende Messehalle in Richtung Ausgang.
9
Glaub nicht alles, was du liest.
In der Schule waren die Gerüchte über Sophie Smith nach dem Wochenende noch viel verrückter geworden. Die Cafeteria Girls behaupteten mittlerweile, Sophie sei eine Eigenbrötlerin mit schwerer Zwangsneurose.
»Deshalb hat sie keine Freunde«, erklärte eine von ihnen.
Ich hätte ihnen am liebsten gesagt, dass Sophie vielleicht nur deshalb keine Freunde hatte, weil sie erst seit genau eineinhalb Tagen auf unserer Schule war, doch ich hielt den Mund, weil a) die Cafeteria Girls nicht wirklich wussten, dass es mich gab, und b) ich Angst hatte, was sie über mich erzählen würden, wenn sie herausfanden, dass es mich gab.
»Ganz abgesehen davon, dass ihr Dad der totale Psycho ist«, sagte eines der Mädchen. »Ich hab gehört, es soll in dem Haus ein Zimmer geben, in dem lauter Foltergeräte stehen.«
Der ganze Tisch hielt die Luft an.
»Echt?«
»Echt. Da stehen lauter so Hightech-Maschinen mit scharfen Spitzen und irrsinnig aussehenden Riemen und Gurten herum. So Sachen, die schon beim Angucken fürchterlich wehtun.«
»Aber … wozu braucht er denn Foltergeräte?«
»Weil er Leute foltert, du Knallkopf.«
Die Mädchen verstummten bei der Vorstellung. Es war eindeutig das längste Schweigen in der Geschichte der Cafeteria Girls und wurde erst unterbrochen, als es zur nächsten Stunde läutete.
»Ist das zu fassen?«, sagte Milton, als wir die Cafeteria verlassen hatten. »Also, Sophies Vater muss doch eindeutig krank sein!«
Vor der Tür zum Debattierklub blieb ich stehen und drehte mich zu Milton um.
»Hast du schon mal drüber nachgedacht, dass manches, was wir hier an der Schule über Leute hören, erfunden sein könnte?«, fragte ich ihn.
»Wie meinst du das?«
»Ich meine, dass die Cafeteria Girls vielleicht nicht immer ganz glaubwürdig sind.«
»Kann sein, aber …« Milton öffnete seinen Rucksack und griff hinein. »Warte, bis du das hier gesehen hast.«
Er förderte eine Zeitschrift zutage. Der Titel erstreckte sich quer über den ganzen oberen Teil des Covers:
SUPERKNÜLLER
Ich hatte die Zeitschrift in Supermärkten gesehen, jede Ausgabe voll mit
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