Judasbrut
Hauch
Frühsommer hinein, sondern auch das Gebrumm von Autos in der Ferne drang an ihr
Ohr. Hin und wieder zwitscherte ein Vogel. Sie war froh, dass sie ein wenig vom
blauen Himmel sah.
Sie
hatte völlig ihr Zeitgefühl verloren. Es musste inzwischen später Nachmittag
oder früher Abend sein. Sie fühlte sich besser und wunderte sich, dass sie
nicht das Bedürfnis hatte zu weinen. Ihre Angst hielt sich momentan in Grenzen.
Er war ihr gegenüber bislang nicht brutal gewesen – physisch zumindest – , daher hatte sie die Hoffnung, dass er sie nicht misshandeln
würde, solange sie tat, was er verlangte. Irgendwie hoffte sie sogar, dass er
bald wieder kam, damit sie nicht länger allein war.
Sie
nagte an ihren Fingernägeln herum – eine
Eigenschaft, die sie sich vor Jahren mit großer Mühe abgewöhnt hatte. Sie ging
im Zimmer auf und ab. Ein paar Schritte in die eine, ein paar zurück in die
andere Richtung war alles, was an Bewegung möglich war. Sie hatte nicht nur
brennenden Durst und musste aufs Klo, sondern stellte auch mit großer
Verblüffung fest, dass sie Hunger hatte.
Am
Fenster blieb sie stehen und versuchte, etwas zu erkennen, das ihr einen
Anhaltspunkt gab, wo sie sich überhaupt befand. Das weiß getünchte Haus war
offenbar älteren Datums, denn sie konnte an der Fassade ein paar Fachwerkbalken
entdecken. Links und rechts vermutete sie weitere Häuser. Kein einziger Hinweis
darauf, ob sie in Erlangen oder anderswo war. Die Fahrt im Kofferraum war ihr
wie eine Ewigkeit vorgekommen.
Plötzlich
meldete sich ihr Magen mit lautem Knurren. In sich hineinlauschend, legte sie
eine Hand unterhalb ihres Bauchnabels. Natürlich fühlte sie nichts außer ihrem
knurrenden Magen, dazu war es noch viel zu früh.
Draußen
auf dem Flur hörte sie Geräusche. Eine Tür schlug. Schritte. Lauter werdend,
dann wieder leiser. Das Ganze wiederholte sich. Schließlich drehte sich der
Schlüssel im Schloss. Er stieß die Tür sperrangelweit auf.
»Hi«,
sagte er mit breitem Lächeln, das Nina unweigerlich an Jens erinnerte, wenn der
zur Tür hereinkam. »Ich hab dir was mitgebracht.«
Kurzerhand
schaffte er hinein, was er vor der Tür deponiert hatte: Bettzeug,
Kleidungsstücke, Hygieneartikel sowie Getränke und etwas zu essen.
»Ach
so. Falls du ins Bad willst … « Er deutete auf die Tür schräg
gegenüber.
Nina
nickte, doch bevor sie ging, schnappte sie sich erst eine Flasche Wasser und
trank gierig.
»Tut
mir leid, dass es so lange gedauert hat.«
Auch
das Fenster im Bad lag so ungünstig in einer Ecke, dass sie kaum hinausschauen
konnte. Viel genützt hätte ihr eine bessere Sicht allerdings nicht: Selbst wenn
sie wusste, wo sie war, benachrichtigen konnte sie ja niemanden. Als sie das
Bad verließ, blieb sie einen Moment in der Tür stehen. Die Treppe, über die sie
herauf gekommen waren, lag wahrscheinlich hinter einer der Türen. Nichtssagend
war alles, was ihr zum Aussehen dieser Etage einfiel.
»Alles
in Ordnung?«, erkundigte er sich, als er sie bemerkte.
»Hm.«
Sie kam herein und schloss die Tür hinter sich.
»Ich
hoffe, ich habe an alles gedacht. Wenn etwas fehlt, dann sag es einfach«,
meinte er. »Der Zimmerservice hier lässt zu wünschen übrig, aber er bemüht sich
redlich.« Er zwinkerte ihr zu.
Fast
hätte Nina gelacht. »Danke.« Sie setzte sich auf das Sofa.
»Das
kann man übrigens ausklappen«, informierte er sie, zog seine Brille ab und warf
sie auf den Schreibtisch. Einen Arm auf der Lehne hinter ihrem Rücken, machte
er es sich gemütlich. »Ist ziemlich bequem.«
Stocksteif
blieb Nina sitzen. Sie würde sich nicht wehren, wenn er mit ihr schlafen wollte – allein, um dem Baby nicht zu schaden. Aber wie sollte sie Jens jemals wieder
gegenübertreten?
Minuten
vergingen, in denen sie beide einfach da saßen. Nina schielte zu ihm. Mit
geschlossenen Augen atmete er ruhig, daher entspannte sie sich ein wenig.
Plötzlich knurrte ihr Magen vernehmlich. Er öffnete ein Auge.
»Ich
schätze, das bedeutet, dass du Hunger hast.« Er unterdrückte ein Gähnen. »Wie
wäre es mit einer Brotzeit? Sieh mal in die Kühltasche. Ich wusste nicht, was
du magst.«
Sie
fand Butterbrezn, geschnittenes Holzofenbrot, Wurst und Käse, ein wenig Obst
und Joghurt. Sogar an Brettchen und Plastikbesteck hatte er gedacht. Sie
breitete alles auf dem Schreibtisch aus, nahm sich eine Butterbreze und je ein
Stück Gelbwurst und Käse, in den sie gleich herzhaft hineinbiss.
»Was
möchtest du?«, fragte
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