Judith
Und der andere… «
Stephen legte ihr die Finger auf die Lippen. »Halte sie dir nur noch ein paar Tage vom Leib. Schaffst du das? «
»Ich will’s versuchen. Ich hatte schon alle Hoffnung aufgegeben. «
Stephen gab ihr einen Kuß auf die Stirn. »Gavin kann sich glücklich schätzen«, flüsterte er. Dann stand er auf und war gleich darauf verschwunden.
20. Kapitel
»Hast du ihn gesehen? « fragte Judith. Es war am Tag, nachdem sie Stephen begegnet war. Nun wollte sie einen Bericht von Joan.
»Er sieht wieder so aus wie immer — fast jedenfalls. Ich hatte schon befürchtet, daß der Aufenthalt da unten in dem Loch ihn ganz entstellen könnte. «
»Du gibst zuviel auf Äußerlichkeiten«, tadelte Judith. »Es geht Gavin wirklich gut? «
»Das Essen hält ihn am Leben. «
Judith nagte an ihrer Unterlippe. Und wie erträgt sein Geist dieses schaurige Gefängnis, ging es ihr durch den Kopf. Wie hat er verkraftet, daß ich ihm den Wein ins Gesicht schüttete?
»Hol mir die Sachen, die ich neulich getragen habe. Sind sie inzwischen gewaschen worden? « fragte Judith.
»Ihr wollt doch nicht hinunter? Wenn man Euch ertappt…? «
»Kein Wort mehr. Hol mir die Sachen! «
Gavin war jetzt in einem anderen Gefängnis, nicht viel besser als das Loch. Es war ein Gewölbe unter dem Turm. Kein Licht kam dorthin. Und der einzige Zugang war eine dicke Tür aus Eichenbohlen.
Joan hatte sich mit den Männern, die die Tür zum Keller bewachten, angefreundet. Es herrschte kaum Disziplin unter Demaris Leuten. Und das hatte Joan für sich ausgenutzt. Nachdem sie einem der Bewacher zugeblinzelt hatte, erklärte sie: »Mach auf. Wir bringen Essen und Medizin. Auf Anordnung von Lord Walter. «
In diesem Moment wurde die Kellertür geöffnet. Eine alte, schmutzige Frau tauchte auf. »Woher sollen wir wissen, daß euch Lord Demari schickt? « keifte sie.
»Frag ihn doch! « Joan stieß die Alte zur Seite.
Judith blieb dicht neben ihr. Sie hielt den Kopf gesenkt und hatte sich die Kapuze tief ins Gesicht gezogen, um ihr Haar zu verdecken.
»Ihr könnt zu ihm«, brummte die Alte. »Er schläft, und viel mehr hat er nicht getan, seit er hier unten ist. Ich versorge ihn schon gut. «
»Da bin ich sicher«, meinte Joan spöttisch. Sie standen inzwischen in dem Verließ. »Das Bett ist völlig verdreckt. «
»Na, er hatte es schon schlechter«, murrte die Frau.
»Laß uns allein, wir kümmern uns um ihn. « Joan gab der Alten einen Stoß.
Judith raunte ihr etwas ins Ohr. Sie wollte nicht, daß die Frau wütend wurde. Doch die Alte beobachtete alles genau. Sie wirkte zwar ziemlich heruntergekommen und einfältig, aber sie spürte, daß es mit der Magd in dem Kapuzenumhang eine besondere Bewandtnis haben mußte, denn die freche Joan hörte auf sie.
»Worauf wartest du noch? « fragte Joan.
Die Alte zögerte und lungerte weiter herum. Sie wollte wissen, was sich unter der Kapuze verbarg. »Ich muß Medizin holen. Der da braucht sie zwar nicht, aber die anderen hier unten. «
Sie nahm einen Krug auf und ging dicht an der Frau vorbei, die so geheimnisvoll wirkte. Als sie nahe an der Kerze war, ließ sie den Krug fallen.
Judith fuhr zusammen und sah hoch. Das genügte der Alten. Sie sah in goldene Augen. Und solche Augen hatte nur eine. Das wußte sie. Sie hatte Mühe, sich ein hämisches Grinsen zu verkneifen.
»Du bist so unbeholfen wie dumm«, fuhr Joan die Alte an. »Mach, daß du rauskommst. Sonst fangen deine Lumpen noch Feuer. «
Joan und Judith sahen nicht, daß die Alte ihnen einen haßerfüllten Blick zuwarf. Sie hatten sich Gavin zugewandt.
Doch die Worte der Frau ließen sie herumfahren. »Ich werde dir zu einem Scheiterhaufen verhelfen, wenn du die Leute weiterhin so behandelst. «
Joan zuckte zusammen. »Was hat sie damit gemeint? « fragte sie.
Doch Judith hörte sie nicht. Sie setzte sich vorsichtig auf die Kante von Gavins Lager. Das Kerzenlicht erhellte sein Gesicht, das nicht mehr so eingefallen war. Erleichtert atmete sie auf.
»Gavin? «
Er öffnete die Augen. »Judith… «
»Ja, ich bin’s. « Sie lächelte ihn an und schob die Kapuze zurück. »Du siehst besser aus, nachdem du dich gewaschen hast. «
Seine Miene wurde hart und abweisend. »Dafür habe ich mich nicht bei dir zu bedanken. Oder meinst du, daß der Wein… «
Alle Farbe war bei seinen Worten aus Judiths Gesicht gewichen. »Gavin! « unterbrach sie ihn. »Du machst mir zu unrecht Vorwürfe. Wenn ich auf dich zugestürzt wäre,
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