JULIA COLLECTION Band 11
Searles Testament bedacht worden zu sein, war sein alter Groll wieder hervorgebrochen.
London erschien ihr nicht nur immer reizvoller, sondern entwickelte sich allmählich zu einer unabdingbaren Notwendigkeit.
„Es tut mir leid, dass du so empfindest, Ellis, und ich wünschte, ich hätte mehr Zeit, um mit dir darüber zu reden, aber ich muss um eins am Flughafen sein.“
„Ich könnte etwas Bargeld für die Rückfahrt gebrauchen“, eröffnete er unverhohlen.
Ihr lag die Frage auf der Zunge, was er mit den zweihundertfünfzigtausend Dollar angestellt hatte, die ihm nach Kenn-eth’Tod von der Lebensversicherung ausgezahlt worden waren. Stattdessen holte sie ihre Brieftasche aus dem Sekretär, nahm ein Bündel Scheine heraus und presste es ihm in die Hand. „Das ist alles, was ich im Moment dahabe. Es sind knapp dreihundert. Ich hoffe, das hilft dir. Wenn du mich jetzt bitte entschuldigst, ich muss mich umziehen.“
Ellis stopfte das Geld in die Jeanstasche und bemühte sich widerwillig um Höflichkeit. „Ich könnte dich zum Flughafen fahren.“
„Nicht nötig“, wehrte sie lächelnd ab. „Außerdem wäre es ein Umweg von einer Stunde Fahrtzeit für dich.“
„Wie du meinst“, murmelte er und ging zum Gästezimmer.
Kopfschüttelnd stieg Avis die Treppe hinauf. Ellis mochte zwar den dreißigsten Geburtstag hinter sich haben, aber emotional war er ein Teenager geblieben. Unwillkürlich fragte sie sich, ob sein Vater ihm hätte helfen können, erwachsen zu werden, wenn die Dinge anders gelaufen wären. Diese altbekannte Sorge belastete sie, aber sie konnte nichts dagegen tun.
Entschieden lenkte sie ihre Gedanken auf die bevorstehende Reise, und ihre Stimmung hob sich beträchtlich. Vielleicht war es gut, dass Ellis gekommen war. Er hatte ihr den Anstoß gegeben, sich diesen Traum zu erfüllen. Sie und Kenneth hatten nie genügend Geld besessen, um zu verreisen.
Seit sie den Entschluss gefasst hatte, war ihre Aufregung kaum noch zu zügeln. Ihre Sachen waren längst gepackt, und nun musste sie sich nur noch bereit machen und einige Telefonate führen.
Sie begann mit einer ausgiebigen, heißen Dusche. Nachdem sie sich die dichten, schulterlangen Haare gefönt hatte, legte sie Wimperntusche und Lidschatten auf, um ihre tiefblauen Augen zu betonen. Dann wählte sie einen bequemen Hosenanzug in einem kühlen Lila, das ihren cremigen Teint zur Geltung brachte. Das schmale, lange Oberteil mit den weiten Ärmeln ließ sie noch größer als ihre eins siebzig wirken und kaschierte ein wenig ihren sehr üppigen Busen, während die Hose großen Tragekomfort auf dem langen Flug gewährleistete. Ein tief sitzender Gürtel, dazu passende Schuhe und Amethystschmuck vervollständigen ihr Outfit. Außerdem nahm sie einen weichen Mantel mit Kapuze gegen die hohe Regenwahrscheinlichkeit und die niedrigeren Temperaturen mit, die Anfang April in England zu erwarten waren.
Schließlich verbrachte sie fast eine Stunde am Telefon, zuerst mit ihrer guten Freundin Gwyn Dunstan und dann mit ihrem Geschäftspartner Pete, der zunächst schockiert auf ihren Trip reagierte, sich dann aber über ihre „unvermutete spontane Ader“ freute.
Als sie ihr Gepäck hinunter ins Foyer geschleift hatte, stellte sie fest, dass Ellis verschwunden war, ohne ein einziges Wort des Abschieds. Es überraschte sie nicht wirklich und änderte auch nichts an ihren Reiseplänen.
Nachdem sie das Frühstücksgeschirr abgewaschen sowie Fenster und Elektrogeräte überprüft hatte, verschloss sie das Haus und machte sich auf den Weg zum Flughafen. Hochstimmung beflügelte sie. Zum ersten Mal seit der Erbschaft gönnte sie sich wirklich etwas.
In dieser Hinsicht war sie sehr vernünftig geblieben. Sie hatte die Ausgaben strikt begrenzt und ließ das Geld für sich arbeiten. Nun stand sie im Begriff, sich ihren lebenslangen Traum zu erfüllen. Dass sie es allein tun musste, war nicht weiter schlimm, denn sie war eigentlich immer allein gewesen, selbst während ihrer achtjährigen Ehe. Kenneth, ein angesehener Professor an der Universität von Texas, war siebenundzwanzig Jahre älter als sie gewesen und hatte zu Beginn weise und überlegen auf sie gewirkt. Aber dann hatte er sich eher als abhängig von ihr erwiesen, vor allem in den letzten Jahren, nachdem er an Krebs erkrankt war. Die Hälfte ihrer Ehe war von dieser heimtückischen Krankheit geprägt gewesen. In den Jahren nach seinem Tod hatte sie sich mühsam durchschlagen müssen – bis Edwin ihr
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