JULIA COLLECTION Band 11
auch Griechenland einschieben. „Haben Sie schon mal an das Mittelmeer gedacht?“
Verdutzt blickte sie ihn an. Dann lachte sie, und es klang sehr melodisch und impulsiv und intensiv. Er war überzeugt, dass sie in Liebesdingen ebenso impulsiv und intensiv war.
„Na ja, jeder hat wohl schon mal an das Mittelmeer gedacht“, entgegnete sie. „Aber habe ich schon mal erwogen, diesen Teil der Welt zu bereisen? Nein. Nicht wirklich.“
„Das sollten Sie aber.“
„Und warum?“, wollte sie wissen, und er erklärte es ihr in aller Ausführlichkeit.
„Ich weiß, wie es ist“, sagte Avis sanft und blickte Lucien unter gesenkten Lidern an. „Mein Mann ist auch gestorben. Vor über vier Jahren.“
Er rieb sich die Stirn. „Bei meiner Frau sind es jetzt fast fünf Jahre. Als es passierte, sagte jemand zu mir, dass es eine große Bürde, aber auch ein Segen sei, übrig zu bleiben. Wenn ich meinen Sohn ansehe, kann ich es nicht als Segen empfinden, dass er seine Mutter verloren hat.“
Sie spürte Mitgefühl für den Jungen und fragte: „Wie alt ist er?“
„Sechs.“
„Es muss schwierig sein, so viel zu reisen, wenn man ein kleines Kind zu versorgen hat.“
Er nickte. „Aber ich habe Glück, dass meine Mutter sich sehr um ihn kümmert.“
„Er muss Sie trotzdem vermissen.“
Ein Schatten glitt über sein Gesicht. „Nicht so sehr, wie ich ihn vermisse.“ Er schien einen Anflug von Melancholie abzuschütteln. „Ich habe ihren Tod nie als Segen empfunden, aber ich bin nicht länger zornig, und ich bin froh, meinen Sohn zu haben.“
Avis nickte voller Verständnis und Mitgefühl. „Wie ist sie gestorben?“
„Ein Sturz auf einer Skipiste. Zuerst dachte ich, sie würde es nur spielen. Sie hat immer Späße gemacht, und sie sah so hübsch und friedlich aus, als würde sie nur in den blauen Himmel blicken. Ich konnte nicht glauben, dass sie tot war.“ Er schnipste mit den Fingern. „Es ist einfach so passiert.“
Sie seufzte tief. „Mein Mann ist qualvoll langsam gestorben. Krebs.“
Er griff nach ihrer Hand. Die Wärme seiner langen Finger machte ihr bewusst, wie kalt ihr war. Sie erschauerte, und er nahm die Decke aus der Ecke ihres Sitzes und breitete sie über ihr aus. Es erschien ihr eine seltsam intime Geste. Verlegen schaute sie sich um und stellte überrascht fest, dass die anderen Passagiere schliefen. Sie guckte aus dem Fenster und sah nur Finsternis. Sie hatten stundenlang geredet!
„Ich bin froh, dass Althea nicht so leiden musste“, murmelte er, und er hielt dabei ihren Blick gefangen. Sie konnte nur daran denken, dass er die dunkelsten Augen und längsten Wimpern hatte, die sie je gesehen hatte. „Sie wollen also auf Urlaub nach London?“
Sie nickte. „Und Sie geschäftlich. Darf ich fragen, um was für Geschäfte es sich handelt?“
„In diesem Fall sind es Schuhe.“
„ Schuhe? Irgendwie kann ich Sie mir nicht als Schuhverkäufer vorstellen.“
„Ich bin so etwas wie … wie ein freiberuflicher Manager.“
„Wie geht denn das?“
Er schmunzelte und tippte sich nachdenklich an die Lippen, die sehr wohlgeformt und fest waren. „Sagen wir mal, dass jemand, zum Beispiel ein Designer, Talent für die Herstellung von Dingen hat, die andere kaufen wollen. Aber er hat kein Talent dafür, diese Dinge zu vermarkten, obwohl sie sich praktisch von allein verkaufen. Er ist ein so schlechter Geschäftsmann, dass er, so wundervoll seine Entwürfe auch sein mögen, früher oder später umsonst arbeitet und sein Geld überallhin fließt außer in seine eigene Tasche. Dann übernehme ich und zeige ihm, wie wir beide Profite erzielen können.“
„Also sind Sie ein moderner Pirat“, warf sie ihm vor.
„Manchmal“, gestand er ein, „und manchmal ein Retter oder ein Spekulant oder auch ein gewöhnlicher Banker. Je nachdem, was die Umstände erfordern.“ Er zuckte die Achseln. „Diesmal wurde ich einfach um Hilfe gebeten.“
„Passiert es oft auf diese Weise?“, hakte sie nach, und die Antwort erschien ihr aus irgendeinem Grunde wichtig.
„Ja, sogar meistens. Obwohl es gelegentlich so scheint, als würde der Fuchs in den Hühnerstall eingeladen.“
„Das kann ich mir denken“, murrte sie.
Er lachte total unbekümmert.
„Was ist?“
„Sie haben einen sehr erotischen Akzent.“
Wider besseres Wissen fühlte sie sich geschmeichelt. „Sie haben selbst einen Akzent.“
„Sie hören meine Mutter heraus, die in jeder Hinsicht Griechin ist.“
„Und Ihr
Weitere Kostenlose Bücher