JULIA COLLECTION Band 11
Vater?“
„Amerikaner. Geboren und aufgewachsen in San Francisco. Er starb, als ich zweiundzwanzig war. Meine Kindheit war gleichmäßig aufgeteilt zwischen Kalifornien und Griechenland.“
„Wie ist es dort?“
„San Francisco oder Griechenland?“
„Beides.“
„Beide liegen am Meer und sind davon geprägt, aber San Francisco ist mild und grün, während Griechenland hart und golden ist. Für mich sind sie wie die zwei Seiten einer Münze.“
Die poetische Art, in der er sich oft ausdrückte, faszinierte Avis. „Sie sind ein seltsamer Mann.“
„Mag sein. Jedenfalls gefällt es mir, alles zu erforschen und in vollen Zügen auszukosten.“
„Manchen Dingen kann man aber nicht vollständig auf den Grund gehen.“
„Und das sind die besten Dinge.“ Er beugte sich näher. „Die Dinge, die man leicht durchschaut, sind flüchtig. Aber diejenigen, die uns beschäftigen, uns fesseln, sind die Essenz des Lebens. Oder nicht?“
Einen Moment lang dachte sie nach. Doch dann ließ sie es lieber bleiben. Wenn sie zu viel grübelte, fiel ihr womöglich noch ein Grund ein, Lucien abzuweisen, und dazu war er zu unterhaltsam, zu interessant. Außerdem würden sich ihre Wege nach der Landung trennen und zweifellos nie wieder kreuzen. Was konnte es schon schaden, eine Weile seine Gesellschaft zu genießen? „Sie sind außerdem ein Philosoph, glaube ich.“
Er grinste. „Natürlich. Ich bin schließlich ein halber Grieche.“
„Aha, Genetik.“
„Immer. Alles Lebendigeistgenetisch bedingt, und besonders alles Menschliche. Vor allem Sex.“ Lächelnd fragt er: „Meinen Sie nicht?“
Sie konnte kaum atmen, geschweige denn zusammenhängende Gedanken fassen unter seinem sinnlichen Blick, der sie verlegen machte.
Er schmunzelte. „Ein Beispiel. Meine Tante Chloe macht das beste Baklava auf der Welt. Sie würde das Rezept jedem Fremden auf der Straße verraten und Sie mit in ihre Küche nehmen, um es Ihnen Schritt für Schritt zu zeigen. Aber ihres wird immer besser sein.“ Er zuckte die Achseln. „Genetik. Es ist eine Gabe, die sie von ihrer Mutter geerbt hat und mit ins Grab nehmen wird, denn sie hat nur Söhne, die sich wie deren Vater kaum selbst ernähren können. Sie sind gute Männer, aber keine guten Köche.“
Avis lachte. „Und Sie haben das Baklava-Gen auch nicht geerbt, nehme ich an.“
„Nur in gewisser Weise.“ Er klopfte sich auf den Bauch. „Ich bin genetisch veranlagt, mehr von Tante Chloes Baklava zu essen, als mir guttut.“
Es war eine glatte Lüge. Er war so fit und muskulös wie ein Athlet, aber sie lachte, anstatt es ihm vorzuwerfen. Sie war derart fasziniert von ihm, dass sie ihm bereitwillig Auskunft erteilte, als er sie nebenhin fragte, wo sie in London abzusteigen gedachte.
„So ein Zufall! Dort habe ich auch gebucht.“
„Nicht möglich!“, wandte sie argwöhnisch ein. „Oder doch?“
„Wirklich. Ich steige im selben Hotel ab.“
„Du meine Güte“, murmelte sie lächelnd.
Er griff über den schmalen Gang zu dem Kissen auf seinem Sitz. „Wir sollten jetzt beide etwas ruhen. In London wird es früh am Morgen sein, wenn wir landen.“
Lucien löschte das kleine Licht über ihren Köpfen und senkte seine Rückenlehne. Avis kuschelte sich in die Ecke ihres Sitzes, schloss die Augen und fragte sich, ob er sie zu umgarnen versuchte. Natürlich war er nicht der erste Mann, der Interesse an ihr zeigte, doch diesmal erschien es ihr weit aufregender als je zuvor.
Aber das war ein törichter Gedanke. Schließlich lebte er weit weg, in Kalifornien. Selbst wenn sie einander wieder sahen, was bedeutete das schon auf lange Sicht? Sie zwang sich, nicht weiter darüber zu sinnen, aber ein Gedanke blieb hartnäckig, selbst als sie einschlummerte: Lucien Tyrone würde im selben Hotel wie sie absteigen. Was das bedeuten mochte, wagte sie sich selbst im Schlaf nicht auszumalen.
Die Stewardess schob den Frühstückswagen durch den Gang. Lucien blieb neben Avis sitzen. Er hatte nur kurze Augenblicke geschlafen, unterbrochen von äußerst erotischen Träumen und den unausweichlichen Folgen. Avis dagegen hatte einige Stunden Ruhe gefunden. Eine Zeit lang hatte er sie dabei beobachtet und sich gefragt, was ihn an ihr so faszinierte. Sie war ein wenig zerzaust und verwirrt erwacht, aber die Verwirrung war sogleich einem bezaubernden Lächeln gewichen. Nach einigen Bürstenstrichen und einem Hauch Lippenstift sah sie wieder so gepflegt aus wie zuvor.
Sie verzehrte alles auf ihrem
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