nie das Gefühl gegeben, als hätte er plötzlich kalte Füße bekommen. Kaum hatte sie die Möglichkeit eines Treffens erwähnt, war er sofort Feuer und Flamme gewesen.
Es ergab überhaupt keinen Sinn, dass er nicht erschienen war, und insgeheim hoffte Annie immer noch, dass ihn etwas Unvermeidbares aufgehalten hatte. Leider würde er dann aber sicher nicht sehr erfreut über die empörte E-Mail sein, die sie ihm auf Drängen ihrer Freundinnen geschickt hatte.
Verdammt!
Es schien Annie, als wären weitere Stunden vergangen, und noch immer konnte sie nicht schlafen. Mel wohnte in der Innenstadt, nicht weit von einer großen Fernstraße. Annie lag mit offenen Augen im Bett und lauschte den Verkehrsgeräuschen. Nur mit Mühe konnte sie die Tränen zurückhalten und hatte plötzlich schreckliches Heimweh.
Zu Hause begann der Tag mit dem Sonnenaufgang über dem Seaview Range. Meist wurde sie von Lavender, ihrer Colliehündin, geweckt, die sie mit der Nase anstupste. In Southern Cross, der Ranch, die sie mit ihren beiden Brüdern bewohnte, erklang morgens als Erstes das freundliche Lachen der Kookaburras und das Krächzen der Elstern, manchmal auch das sanfte Muhen der Kühe.
Der Gedanke an ihr Zuhause und an ihre Zwillingsbrüder Reid und Kane löste weitere Schuldgefühle in ihr aus. Die beiden waren damit beschäftigt gewesen, das Vieh auf der Weide zusammenzutreiben, als sie sie wegen ihres Abenteuers in der Großstadt verlassen hatte. Zwar hatte sie ihnen eine Nachricht hinterlassen, aber keine Einzelheiten erwähnt, aus Angst, sie könnten ihre Pläne durchkreuzen.
Vor sich selbst hatte Annie diesen Ausflug durchaus rechtfertigen können. Zum einen freute sie sich auf ihr Rendezvous mit Damien, zum anderen brauchte sie dringend Ferien. Aber sie wusste, dass man normalerweise die Familienmitglieder rechtzeitig davon in Kenntnis setzte, wenn man Urlaub machen wollte. Man hinterließ ihnen nicht einfach einen Zettel und überließ sie ihrem Schicksal.
Vielleicht hätte sie ihr Geheimnis nicht für sich behalten sollen. Bestimmt hätte einer ihrer Brüder dafür Verständnis gezeigt, wenn sie ihm erzählt hätte, dass sie einen Mann übers Internet kennengelernt hatte. Andererseits waren sie immer sehr um ihr Wohl besorgt und taten alles, um sie zu beschützen.
Wie schade, dass ihre Mutter so weit weg in Schottland war …
Beim Gedanken an ihre Familie fühlte Annie sich noch einsamer. Während sie darauf wartete, dass es langsam Morgen wurde, wünschte sie sich fast, ihre Brüder hätten sie tatsächlich davor bewahrt, in die Stadt zu fahren.
„Du hast eine Antwort bekommen.“
Triumphierend wedelte Mel beim Frühstück mit einem Blatt Papier herum und reichte es Annie. „Hier, ich habe es für dich ausgedruckt.“
Annie spürte einen stechenden Schmerz in der Brust. Nun gab es kein Entkommen mehr. Bald würde sie wissen, warum Damien ihr aus dem Weg gegangen war.
„Die Nachricht ist von seinem Onkel“, setzte Mel hinzu.
„Von seinem Onkel?“ Annie war total enttäuscht. „Nicht von Damien?“
„Leider nicht.“
„Es gibt den Onkel also wirklich“, meinte Victoria, die gerade Kaffee machte.
„Sieht ganz so aus.“
Annie stöhnte. „Das darf doch wirklich nicht wahr sein. Du meinst, der Onkel hat die E-Mail gelesen, die wir gestern Abend geschickt haben?“
„Scheint so.“
„Aber wir waren so … so …“
„Beschwipst“, sagte Mel beschämt.
„Und unverschämt“, fügte Annie hinzu. „Ich hätte nie gedacht, dass sein Onkel seine Mails lesen würde. Vielleicht hätten wir uns ein bisschen mäßigen sollen.“
„Mäßigen? Wir waren doch nur ehrlich“, erwiderte Victoria empört.
„Ja, aber ein Onkel …“ Vor Annies geistigem Auge erschien ein reizender älterer Herr, der schockiert ihre Nachricht las. Gestern hatte es so energisch und feministisch geklungen. Aber heute, im hellen Licht des Tages …
Mist!
Auf das Schlimmste gefasst, las Annie die Nachricht …
Von: T.G. Grainger
An:
[email protected] Datum: Montag, 14. November, 18.05
Re: Ich hoffe, du hast eine gute Entschuldigung parat, du Mistkerl!
Liebe Annie M.,
es stört Sie hoffentlich nicht, dass ich auf Ihre Nachricht antworte, aber mein Neffe ist diese Woche nicht in der Stadt und hat mich gebeten, wichtige E-Mails für ihn zu beantworten. Ich habe den Eindruck, dass Ihre Mail von größter Wichtigkeit ist. Bitte entschuldigen Sie, dass ich mich in Ihre persönlichen Angelegenheiten einmische, aber ich