Julia Collection Band 61 (German Edition)
geglaubt, dass sie jemanden braucht, der ihr sagt, wo es langgeht, aber Christina wusste sehr genau, was sie wollte. Genau wie Annie. Christina ist nicht gestorben, weil du sie zu etwas gezwungen hast, was sie nicht wollte. Sie wollte dem Meer nahe sein. Sie hat ihre eigene Wahl getroffen.“
Er merkte, wie ihm vor Zorn und Schuldgefühl die Röte in die Wangen schoss. Warum holte seine Mutter die alten Geschichten wieder hervor? War seine jetzige Situation nicht schlimm genug?
„Deine Erinnerungen an dein Verhältnis zu Christina werden von deinem schlechten Gewissen geprägt. Du hast dir nie verziehen, dass du ihr nicht das Kind geben konntest, das sie sich wünschte. Und nun gibst du dir auch für ihren Tod die Schuld. Aber das alles hat nichts mit Annie zu tun. Sie ist stark, und sie weiß, was sie will. Du kannst nicht über sie bestimmen.“
Elizabeth blickte ihren Sohn zärtlich an. Wie sehr sie diesen uneinsichtigen Mann liebte. Noch gab es eine Chance. „Möchtest du, dass deine Kinder einmal genauso über dich denken wie du damals über deinen Vater?“
Kurz sah er das Kind vor sich, Annies und sein Kind, ein kleines Mädchen oder einen kleinen Jungen mit roten Locken wie die Mutter und blauen Augen wie der Vater. Doch es war zu schmerzhaft, denn Annie würde nie zu ihm zurückkommen.
„Ich danke dir für deine Besorgnis, Mutter“, sagte er steif. „Aber ich möchte nicht länger darüber sprechen.“
Er drehte sich auf dem Absatz um und ließ Elizabeth stehen, die ihm traurig nachschaute.
Plötzlich fühlte er sich so erschöpft wie schon lange nicht mehr. Ohne dass es ihm bewusst war, ging er in sein Büro. Hier hatten Annie und er sich zum ersten Mal geliebt – und wahrscheinlich auch zum letzten Mal.
Er ließ sich in den alten Ledersessel fallen. Alles erinnerte ihn an Annie. Ihre Bücher lagen auf dem Schreibtisch, daneben ihr Kugelschreiber, mit dem sie immer die Angaben aus der Forschungsstation notierte, bevor sie sie in den Computer eingab. Ihr Duft schien noch in der Luft zu hängen. Fast hatte er das Gefühl, der Sessel sei noch warm von ihrem Körper.
Wie hatte ihm das passieren können? Kaum hatte er die einzige Person auf der Welt gefunden, die zu ihm passte und die er wollte, da hatte er sie schon wieder verloren.
Um sich abzulenken, griff er nach dem alten Märchenbuch mit dem prächtigen Einband. Das hatte er beinah vergessen. Was hatte die Alte noch behauptet? Dieses Buch würde ihm den Weg zu dem ihm bestimmten Schicksal weisen? Lächerlich.
Dennoch überwog die Neugier. Er hatte noch nie in seinem Leben Märchen gelesen. Allerdings hatte seine Großtante Lucille ihm gern Märchen erzählt. An einige konnte er sich sogar noch erinnern.
Er schlug das Buch auf und fing an zu lesen. Und je mehr er las, desto begieriger war er, weiterzulesen. Er erinnerte sich an die Geschichten und wusste plötzlich auch wieder, was seine Tante ihm über die Bedeutung der einzelnen Märchen gesagt hatte.
Als er schließlich bei Dornröschen und dem Prinzen angelangt war, der die Prinzessin mit seinem Kuss aus dem langen Schlaf erweckte, überfiel ihn eine unwiderstehliche Müdigkeit. Das Buch entglitt seinen Händen, und sein Kopf sank auf die Schreibtischplatte.
Er träumte von Hexen und Prinzessinnen, und alle hatten Annies Gesicht.
Passionata sah den Schlafenden vor ihrem geistigen Auge. „So ist es richtig.“ Sie lachte leise. „Lass die Magie wirken, wehre dich nicht dagegen, mein junger Scoville. Nicht eine junge Prinzessin muss erweckt werden, sondern ein sensibler und einsamer Prinz. Wach auf und nimm das Schicksal in deine Hände. Dein Herz hat dir gezeigt, was es begehrt. Sei glücklich darüber und halte es in Ehren. Sei glücklich und halte sie, die dir bestimmt ist, in Ehren.“
Sie machte eine kurze Handbewegung, und das Bild in der Kristallkugel verschwand.
Als Nick erwachte, konnte er sich nur schwer orientieren. Zwar erkannte er sein Büro wieder, aber irgendetwas fühlte sich anders an.
Plötzlich richtete er sich kerzengerade auf. Etwas war anders. Zum ersten Mal sah er klar vor sich, wie sein Leben bisher abgelaufen war und warum. Alles lag plötzlich offen vor ihm wie die Geschichten in dem Märchenbuch.
Nicht etwas war anders, sondern er hatte sich verändert. Er war nicht mehr der selbstsüchtige Kontrollfreak, der über dem mysteriösen Märchenbuch zusammengesunken und eingeschlafen war. Verblüfft schüttelte er den Kopf. Wie hatte Annie sich nur mit ihm
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