Julia Extra 0357
den Hals kam sie sich eher unscheinbar vor. Insbesondere verglichen mit Mel, die ein Wickelkleid mit Leopardendruck trug und einen schwarzen Blazer, um das verführerische Outfit etwas zu entschärfen.
„Ich hatte dich noch gar nicht erwartet.“ Sie wollte einen Blick auf ihre Armbanduhr werfen, doch auf die hatte sie heute Morgen verzichtet, weil sie nicht zum gediegenen Outfit passte.
Mel räusperte sich vernehmlich, um ihre Freundin an ihre Umgangsformen zu erinnern.
„Ach … äh, Thomas, das ist meine beste Freundin Melissa Sutton. Mel kümmert sich um unseren Stab ehrenamtlicher Helfer. Sie wirbt sie an und bildet sie aus. Erst dann dürfen sie unsere Schüler unterrichten.“
Gespannt wartete Elizabeth, wie Thomas auf die männermordende Mel reagierte. Wenn er seine Großmutter überzeugen wollte, dass er sich Hals über Kopf in Elizabeth verliebt hatte, sollte er sich nicht für andere Frauen interessieren, oder?
Er lächelte höflich und schüttelte Mel die Hand.
Ein etwaiges Interesse an Mel war ihm nicht anzumerken. Seltsam, dachte Elizabeth. Normalerweise flogen alle Männer auf Mel. Sogar ein angehender Priester hatte ihretwegen seinen Berufswunsch geändert. Thomas dagegen blieb völlig unbeeindruckt und sagte lediglich: „Sie sollten vom Tisch abrücken, sonst tropft der Kaffee doch noch auf ihr Kleid.“
„Oh!“ In letzter Sekunde schob sie den Stuhl zurück und entging dem Malheur. Dann blickte Mel zwischen Thomas und Elizabeth hin und her und stand auf. „Ich hole schnell einen Lappen, um den Tisch abzuwischen.“
„Hat mich gefreut, Sie kennenzulernen“, sagte Thomas.
„Mich auch.“ Mel lächelte fröhlich und ging zur Tür, der Thomas den Rücken zugekehrt hatte. Dort blieb sie kurz stehen und fing Elizabeths Blick auf. „Wow“, sagte sie lautlos und verschwand.
„Hoffentlich habe ich eure Besprechung nicht gestört“, sagte Thomas. „Aber wir hatten ja neun Uhr vereinbart.“
Die Wanduhr zeigte Viertel vor neun an. Also war Thomas zu früh eingetroffen. Eigentlich hätte Elizabeth damit rechnen müssen, doch sie selbst war spät dran gewesen, weil es Ewigkeiten gedauert hatte, bevor sie eingeschlafen war. Mehr als zwei Stunden Schlaf hatte sie nicht bekommen. Die Erinnerung an den aufwühlenden Kuss hatte sie fast die ganze Nacht wach gehalten.
Instinktiv berührte sie ihren Mund und erinnerte sich verträumt daran, wie wundervoll es sich angefühlt hatte, seine Lippen auf ihren zu spüren. Es dauerte einen Moment, bevor ihr bewusst wurde, dass der Mann, der sie geküsst hatte, vor ihr stand. Verlegen zog sie die Hand zurück.
„Neun Uhr. Stimmt. Ich erinnere mich.“ Sehr souverän klang das nicht gerade.
Thomas nickte lächelnd. Dann breitete er die Arme aus und meinte: „Das hier ist also der Verein zur Alphabetisierung Erwachsener.“
Arbeit. Ausgezeichnet. Ihre Arbeit lag ihr sehr am Herzen. Stundenlang könnte sie darüber dozieren. Wenigstens würde sie das davon ablenken, wie sexy Thomas in dem Fischgrätenjackett und dem blauen Oxfordhemd ohne Krawatte wirkte.
„Wenn du möchtest, führe ich dich herum“, schlug sie vor.
Die Führung begann im geräumigen Konferenzraum, der mit den großen Lettern und lautmalerischen Bildern, die die Aussprache der Buchstaben verdeutlichten, an einen Klassenraum erinnerte. Im Unterschied zu einem normalen Klassenzimmer befand sich hier allerdings nur ein großer runder Tisch in der Mitte. Elizabeth hatte schnell gemerkt, dass Erwachsene weniger gehemmt waren, wenn sie an einem Konferenztisch saßen. Das hatte mehr Ähnlichkeit mit Arbeit als mit der Schulzeit, an die sie schlechte Erinnerungen hatten. Als sie Thomas erklärte, warum sie diese Möblierung gewählt hatte, nickte er anerkennend.
„Darüber habe ich noch nie nachgedacht“, gab er zu. „Aber es leuchtet mir ein.“
„Wir möchten, dass sich unsere Klienten hier wohlfühlen. Nur dann können sie sich voll darauf konzentrieren, lesen zu lernen.“
„Wie läuft der Unterricht ab?“, erkundigte er sich interessiert.
„Es gibt verschiedene Methoden. Wir arbeiten beispielsweise nach der Lautlernmethode, die sich als recht praktikabel erwiesen hat.“
Er nickte höflich. Ihre Arbeit interessierte ihn wirklich, aber Elizabeth interessierte ihn noch mehr. Immer wieder blieb sein Blick auf ihrem Mund hängen. Thomas hatte gehofft, sich seine überschäumenden Gefühle vom Vorabend nur eingebildet zu haben. Doch je länger er sich in Elizabeths
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