Julia Extra Band 0198
verstehen.
“Wollen Sie wirklich wissen, wie ich eigentlich bin?” Seine tiefe Stimme klang zutiefst genervt. Sein Brustkorb hob sich mächtig, als er nun mehrmals tief durchatmete. “Soll ich es Ihnen wirklich sagen …?”, wiederholte er die Frage in herausforderndem Ton.
Flora gab darauf keine Antwort – sie war dazu nicht in der Lage, so, wie er sie jetzt an den Schultern packte. Doch sollte sie über den festen Griff froh sein, denn so richtig stabil stand sie nicht mehr auf beiden Beinen; seit sie seinen würzig-herben männlichen Duft aus der Nähe eingeatmet hatte, fühlten ihre Knie sich weich wie Pudding an.
Da ertönte durch die Stille des Raumes ein schrilles Läuten.
“Das ist unten wohl mein Telefon.”
“Wollen Sie drangehen?”, fragte er knapp.
“Das sollte ich wohl …” sagte sie leise. Die so abrupte Zerstörung der Atmosphäre war eine herbe Enttäuschung für beide.
Er blieb mit verschränkten Armen stehen, sie schoss an ihm vorbei und rannte nach unten.
Irgendwann während des Telefonats war er ihr ins Wohnzimmer gefolgt. Als er nun auf sie zukam, schaute sie ihn gedankenverloren und erschrocken an.
“Was ist passiert?” Er konnte spüren, dass etwas Außergewöhnliches geschehen sein musste.
“Mein Vater ist gestorben”, erklärte Flora entgeistert. “Heute Abend; er hatte einen Herzinfarkt.” Sie sah ihm ins Gesicht. Und wartete auf ein Wort des Mitgefühls.
Josh blieb stumm – doch seine Augen strahlten Mitgefühl aus. Er hatte damit aufgehört, das, was er für den Vater Graham empfand, zu vermengen mit dem, was er für dessen Tochter empfand. Ja, er war mittlerweile sogar schon zu der Einstellung gelangt, dass er den Vater nicht zerstören konnte, wenn das bedeutete, diese junge Frau zu verletzen. Was wiederum was bedeutete …? Josh dachte, dass er darauf eine Antwort wusste, aber er war innerlich noch nicht so weit, sich dieser Antwort zu stellen, ihr wirklich ins Gesicht zu sehen.
Flora ging rastlos im Zimmer auf und ab; dabei strich sie immer wieder fahrig über ihr Haar. “Mein armer Vater. Er hatte alles verloren, sein Ansehen, seine Arbeit. Sie nahmen ihm zwar nicht die Erlaubnis zu praktizieren ab, aber er genoss nicht mehr den Respekt und das Vertrauen der Patienten so wie zuvor. Also wozu dann noch weitermachen? So sprach er jedenfalls”, erklärte sie ihm traurig. “Was ist das?”, murmelte sie, als er ihr ein Glas in die Hand drückte.
“Weinbrand. Ich glaube nicht, dass Ihre Freundin etwas dagegen hat, wenn Sie sich jetzt einen Drink aus ihrer Hausbar genehmigen”, sagte er sanft.
Flora rümpfte die Nase und schüttelte sich, als sie den scharfen Alkohol in der Kehle brennen spürte; sie trank das Glas dennoch aus.
“Nachweislich fing bei meinem Vater alles Unglück an, als meine Mutter starb.” Beim Sprechen hielt sie die Augen geschlossen. “Er nahm Beruhigungsmittel, etwas in der Richtung.” Josh hatte den Eindruck, dass sie gerade gar nicht zu ihm im Besonderen sprach, sondern auch mit sich selbst.
“Ich glaube, ihm selbst war es gar nicht bewusst, dass er eines Tages tablettenabhängig war, doch seiner neuen Sekretärin war etwas aufgefallen.” Sie hob den Kopf und sah Josh bitter aus ihren blauen Augen an. “Diese junge Frau nahm Drogen und brachte meinen Vater dazu, ihr und ihren Freunden bestimmte Tabletten zu verschaffen.” Zornig wischte sie sich die Tränen aus dem Gesicht. “Als meinem Vater bewusst wurde, dass sein Verhalten nicht in Ordnung war, meldete er sich bei der Polizei und gestand alles; doch jemand war schon vor ihm dort gewesen und hatte ihn bereits angezeigt. Das Gericht ließ am Ende aber die Anklage fallen, weil keine schwerwiegenden Beweise vorlagen – mein Vater war schließlich kein Drogenhändler, er war ein trauriger, bemitleidenswerter, einsamer Mann!”, rief sie. “Doch der Schaden war angerichtet; die Presse hatte die Sache schon spitzgekriegt, sich bereits auf die Story gestürzt und sie in allen möglichen – und unmöglichen – Varianten ausgewalzt.”
Plötzlich öffnete Flora wieder die Augen; sie funkelten voller Selbstverachtung. “Wenn ich mich weniger auf meine Karriere konzentriert hätte … und bei ihm gewesen wäre, als er mich dringend gebraucht hat … dann wäre das alles wohl nicht passiert. Er war verloren ohne meine Mutter. Ich möchte so etwas nicht erleben”, sagte sie jetzt mit allem Nachdruck in der Stimme. “Ich möchte niemals jemanden so sehr lieben, dass ich
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