Julia Extra Band 0198
antat.”
“Oh, er war nicht mehr so jung. Er hatte längst die Ausbildung hinter sich und bereits einen festen Job. Er hat gesagt, er liebt mich. Deshalb war ich so sicher, dass er auch unser Kind lieben würde.” Ihre Stimme wurde dunkler vor Bitterkeit. “Er hat mich nur benutzt.” Sie schwieg eine Weile, versunken in die schrecklichen Erinnerungen. “Aber das Schlimmste kam noch”, setzte sie dann wieder leise an. “Mein Vater erwischte mich, wie ich an dem Abend durchs Fenster wieder in mein Zimmer kletterte.”
Deswegen hat sie also so heftig reagiert, als sie Kelly ertappte, dachte Ryan bei sich.
“Wir haben uns ganz fürchterlich gestritten. Das Baby erwähnte ich nicht, ich kam gar nicht dazu. Und ganz plötzlich schwankte er, griff sich ans Herz. Ich musste den Notarzt rufen.”
“O Julia”, Ryan schmiegte sie an sich, “es tut mir so leid für dich.”
“Ich habe ihn dann jeden Tag im Krankenhaus besucht, wissend, dass ich ihm irgendwann von dem Baby erzählen musste, das in mir heranwuchs.” Sie begann zu zittern. “Als er dann wieder stabil war, habe ich es ihm gesagt.” Tränen strömten jetzt über ihr Gesicht. “Er war schrecklich zu mir. Er hat mir befohlen, das Baby zur Adoption freizugeben. Aber das konnte ich nicht tun. Ich konnte doch mein Baby nicht aufgeben.” Wieder schwieg sie, bevor sie fortfuhr. “In jenem Sommer beendete ich die Schule. Im Juni bekamen wir unsere Abschlusszeugnisse. Und am Tag danach rannte ich von Hause fort. Ich konnte nicht zulassen, dass mein Vater mir mein Kind wegnahm.”
“Wie hast du es geschafft, durchzukommen? Wohin konntest du dich wenden?” Er stellte sich vor, wie allein und verzweifelt Julia damals als Siebzehnjährige gewesen sein musste. Aber gleichzeitig bewunderte er sie für ihre Kraft und ihren Mut.
“Ein Lastwagenfahrer hat mich aufgelesen. Er war sehr nett. Erst hat er mir etwas zu essen gegeben – ich war so schrecklich hungrig –, und dann hat er mich zu den Schwestern gebracht. Sie haben mich aufgenommen und sich um mich gekümmert. Nach Kellys Geburt boten sie mir an, das Baby in einer guten Familie unterzubringen, aber ich war entschlossen, mein Kind zu behalten. Also haben sie mir geholfen, eine Arbeit zu finden, haben es mir ermöglicht, wieder auf die Füße zu kommen, mir ein eigenes Leben zu schaffen. Ich verdanke den Schwestern sehr viel.” Sie seufzte. “Ich spende dem Orden jedes Jahr etwas, aber ich besuche sie nicht mehr. Kelly soll die schrecklichen Umstände, unter denen sie zur Welt gekommen ist, nicht wissen. Sie soll nicht erfahren, dass ausgerechnet die Menschen, die uns am meisten hätten lieben sollen, uns verstoßen haben.” Sie strich sich mit der Hand über die Stirn. “Ach, wem will ich denn hier etwas vormachen? Ich gehe nicht mehr hin, weil ich nicht mehr daran denken will. Ich will es endlich vergessen.”
Sie machte sich aus seinen Armen frei, setzte sich auf und sah ihn mit tränenerfüllten Augen an. “Aber ich kann es nicht vergessen, Ryan. Ich werde es nie vergessen können.”
Ryan legte zärtlich die Hand an ihre Wange. “Vielleicht solltest du es auch nicht vergessen, Julia. Vielleicht ist es gut so, denn die Erfahrung, die du hinter dir hast, hat dich zu dem gemacht, was du heute bist. Eine wunderbare Mutter für Kelly. Eine starke Frau, die ihre Tochter liebt, und auf die sich ihre Tochter immer verlassen kann.”
“Meinst du?”
In ihren schönen dunklen Augen blitzte ein winziger Hoffnungsschimmer auf. Bei der Dankbarkeit für seine Worte, die er in ihrem Gesicht ablas, bildete sich ein Kloß in seiner Kehle, und er war so bewegt, dass er kein Wort mehr herausbrachte. Er nickte nur.
Da gab es noch so viel, was er dieser wunderbaren Frau sagen wollte. Es gab noch so viel, was sie unbedingt hören musste.
Doch vorerst ließ er seine Hand hinter ihren Nacken gleiten. Er sah in diese traurigen dunklen Augen und verspürte in sich nur noch den einen Wunsch: Er wollte ihr den Schmerz nehmen, ihn wegwischen wie eine dunkle Wolke, die der Sommerwind vertrieb.
Sie sah in sein Gesicht, sah dort die unausgesprochene Bitte um Erlaubnis, und wusste, dass er sie küssen würde. Ihr Herz begann wild zu schlagen.
Vertrauen.
Dieses Wort rann wie ein süßes Elixier durch ihre Adern. Und als hätte er ihre Gedanken gelesen, flüsterte er jetzt:
“Vertrau mir, Julia. Bitte.”
Er rückte ein wenig näher und beugte den Kopf vor, zur gleichen Zeit, als auch sie unendlich langsam
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