JULIA EXTRA BAND 0262
nicht gemeldet hatte. Aber Erin tat nichts dergleichen.
„Ich fürchte, deine Gefühle standen bei mir nicht an erster Stelle“, erwiderte sie ruhig. „Ich habe nur an Joey gedacht. Seit er letzten Herbst in die Schule gekommen ist, habe ich mir die ganze Zeit Sorgen um ihn gemacht.“
„Warum denn?“
„Nun, als er dadurch mit so vielen Kindern zusammen war, kam natürlich das Vaterthema auf. Bis dahin hatte ich mit Joey noch gar nicht über dich gesprochen.“
„Nie?“
„Nein. Entschuldige, ich weiß, das klingt schrecklich. Im Nachhinein ist mir klar, dass es ein Fehler war. Ein großer Fehler. Aber Joey hat vorher auch nie nach seinem Vater gefragt. Es sah so aus, als wolltest du nichts mit uns zu tun haben … Und da das Ganze für mich sowieso ziemlich schmerzhaft war, habe ich …“ Sie machte eine kleine Pause und räusperte sich. „Aus vielen Gründen fand ich es einfacher, so zu tun, als würde es dich gar nicht geben.“
Luke schluckte, um den Kloß im Hals loszuwerden.
„Nachdem Joey dann in die Schule kam, erkannte ich, dass ich dadurch ein ziemliches Problem am Hals hatte. Joey ist ein kluger, sensibler kleiner Junge. Er hat natürlich schon sehr früh gemerkt, dass das Thema Vater schwierig war.“
Besorgt sah Erin ihn an. „Du warst am anderen Ende der Welt. Ich wusste einfach nicht, was ich machen sollte.“
Luke wusste, dass sie von ihm eine Antwort erwartete, aber er konnte nicht sprechen. Der Kloß war noch nicht aus seinem Hals verschwunden. Luke stellte sich Erin allein in Manhattan vor, mit Joey und ohne ihn, Joeys Vater.
Während sie ihm das alles erzählte, sah sie so verletzlich aus – verletzlich und trotzdem hinreißend, mit ihren blauen, tränenfeuchten Augen und den schönen Kleidern, die ihre gute Figur betonten.
Warum, zum Teufel, war er so stur geblieben? Warum war er Erin nicht nachgereist, nachdem sie ihn verlassen hatte? Inzwischen erschien es ihm widersinnig, dass er seine Gefühle verschlossen hatte.
Was hatte er damit schon erreicht, außer seinen Sohn völlig zu verwirren? Erin hatte recht. Das Ganze war die totale Katastrophe.
Sie fuhr fort: „Er hat den Mangel dadurch ausgeglichen, dass er unglaubliche Fantasien über dich entwickelt hat. Wahrscheinlich haben sie ihn beruhigt. Aber mich haben sie sehr erschreckt.“
„Was für Fantasien?“
„Also, er hat erzählt, du wärst ein Soldat, der in Übersee kämpft. Oder dass du am Nordpol mit dem Weihnachtsmann wohnst. Meiner Mutter hat unser Sohn gesagt, du würdest auf einem Satellit im Weltall leben. Meine Schwester hat zufällig mitgehört, wie Joey den Nachbarn weismachen wollte, du hättest einen Hot-Dog-Stand an einer Straßenecke in New York und würdest an die Kinder gratis Würstchen verteilen.“
„Ganz schön cool.“ Lukes Versuch, witzig zu sein, scheiterte kläglich. „Verdammt, Erin, wie hast du denn reagiert?“
„Zuerst dachte ich, es wäre alles ganz einfach. Ich habe ihm ein Foto von dir gezeigt, wo du in Warrapinya auf einem Pferd sitzt und wie ein Cowboy aussiehst. Joey war davon begeistert. Aber damit fing die ganze Heldensaga an, und die Geschichten nahmen immer mehr Raum ein.“
Es war bestimmt schmerzhaft für Erin, ihm das zu erzählen. Sie hatte dem Jungen ihre ganze Liebe geschenkt, und er betete einen Bilderbuchcowboy an.
„Ich musste mich fragen, ob es für einen kleinen Jungen gesund ist, ein Foto zu vergöttern“, sagte sie.
Luke sah auf seine Stiefelspitzen. „Es gibt doch sicher viele Kids, die ihre Väter nicht kennen.“
„Ja, das habe ich mir auch gesagt. Trotzdem konnte ich nicht aufhören, mich deshalb zu sorgen. Daher entschloss ich mich, mit Joeys Lehrerin zu sprechen. Sie sagte, sie hätte mich auch schon anrufen wollen, weil sie sich ebenfalls Gedanken machte. Offensichtlich sprach Joey auch in der Schule nur über dich. Er malte zahllose Bilder von dir. Die Lehrerin meinte, die anderen Kinder wüssten, dass er sich das alles nur einbildete. Sie hätten schon angefangen, Joey deswegen aufzuziehen.“
Luke stieß einen leisen Fluch aus.
„Sie schlug vor, dass ich mit einem Kindertherapeuten rede.“
„Unglaublich!“
„Der Therapeut war ziemlich gut“, fuhr Erin fort. „Er half mir zu verstehen, dass die Art, wie ein Junge seinen Vater sieht, auch etwas über ihn selbst aussagt. Joeys Selbstbewusstsein hängt mit dem Bild zusammen, das er von dir hat. Wenn er sich zu viele Sorgen über die Identität seines Vaters macht, sind seine
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