JULIA EXTRA BAND 0273
Penny. „Und sie glaubt, ihr würdet heiraten!“
Laurel drehte sich zu Penny um, deren Augen glänzten. „Darling, das war keine echte Wahrsagerin. Die Frau hatte sich verkleidet und wird für ihre Arbeit bezahlt, genau wie die Clowns und die Menschen mit den Ponys.“
„Ach so.“ Penny runzelte die Stirn.
Ganz bewusst verschwieg Laurel, dass dies nicht ihre erste Begegnung mit einem Wahrsager gewesen war. Schon in Lenovien war ihr einmal die Zukunft vorausgesagt worden, und seitdem versuchte sie mit aller Macht, das Erlebnis zu verdrängen. Alles, was der alte Mann mit dem zerfurchten Gesicht gesagt hatte – über ihre Vergangenheit, die Vorgänge bei ihr zu Hause und die Zukunft – hatte genau gestimmt. Unglück, Verlust, Tod, Wiedergeburt: Alle seine Aussagen waren ebenso beängstigendwie zutreffend gewesen.
Später hatte Laurel sich gewünscht, sie wäre ruhig genug geblieben, um dem Mann Fragen über ihre leiblichen Eltern zu stellen. Aber das Erlebnis hatte sie so erschreckt, dass sie fluchtartig das Weite gesucht hatte. Doch bei der Wahrsagerin auf dem Halloween-Fest lagen die Dinge ganz anders: Sie war einfach nur eine verkleidete alte Frau gewesen, weiter nichts. Ihr verrücktes Gerede über angebliche Schwestern und darüber, dass ausgerechnet Laurel die Frau wäre, mit der Charles Gray sein Leben verbringen würde – das alles war einfach nur lächerlich.
„Laurel?“
Charles’ Stimme riss sie aus ihren Gedanken. „Ja?“
„Ich habe Penny gerade erklärt, dass Wahrsagerei auf solchen Festen nur ein Spaß ist und genauso wenig echt wie die Gespenster aus Papier, die überall als Dekoration in den Bäumen hängen“, sagte er. „Da geben Sie mir doch recht, oder?“
„Ich … ähm, ja, natürlich, auf jeden Fall.“ Als Laurel bemerkte, wie enttäuscht Penny wirkte, versuchte sie das Mädchen aufzuheitern.
„Aber es war trotzdem lustig, stimmt’s? Und was hältst du davon, wenn du dich zu Halloween selbst als Zigeunerin verkleidest?“
Sofort strahlte Penny wieder. „Oh ja! Heißt das, ich darf dieses Jahr endlich wie die anderen Kinder von Tür zu Tür gehen und Süßigkeiten sammeln?“
Oh nein, dachte Laurel. Auch ohne Charles anzusehen, war ihr klar, dass sie schon wieder auf dem besten Wege war, gegen eine seiner Anweisungen zu verstoßen.
„Mal sehen, Darling.“ Sie schnitt ein Gesicht und fügte hinzu: „Erst einmal sollte ich wohl mit deinem Vater darüber reden.“
Charles warf ihr einen düsteren Blick zu. „Ja, es gibt so einiges, worüber wir uns unterhalten müssen.“
„Ich dachte es mir fast.“
„Wie schön, dass Sie zumindest in mancher Hinsicht sensibel sind“, erwiderte Charles ironisch.
„Was heißt ‚senbibel‘?“, wollte Penny wissen.
„Sen si bel“, berichtigte Laurel sie sofort.
„Ja, ich weiß, senbibel“, sagte Penny bestimmt. „Das habeich doch gesagt!“
Amüsiert bemerkte Laurel, dass die Kleine ihrem Vater sehr ähnlich sah, wenn sie so ungeduldig dreinblickte. „Aber was heißt das?“
„Sensibel zu sein bedeutet, dass man versteht, was jemand anders meint“, erklärte Laurel, warf Charles einen Blick zu und fügte dann hinzu: „Auch dann, wenn derjenige sich nicht sehr klar ausdrückt.“
„Und Leute, die nicht sensibel sind“, gab dieser zurück, „stampfen manchmal durchs Leben, ohne sich um die Gefühle und Wünsche anderer Menschen zu scheren. Auch dann, wenn diese ihnen ausdrücklich gesagt haben, wie sie empfinden.“
„Aber manchmal kann ein sensibler Mensch eine Situation viel besser einschätzen als jemand anders, der einfach seinen Willen durchsetzen möchte – egal, was für die anderen Betroffenen das Beste ist.“ Sehr zufrieden mit ihrer Definition, nickte Laurel.
„Es kann jedoch auch passieren“, entgegnete Charles, „dass eine Person, die sich für überaus sensibel hält , die Dinge absichtlich so deutet, dass sie ihre eigenen Ansichten bestätigen – unabhängig davon, wie die Wirklichkeit aussieht.“
„Wie du siehst, kann man die Bedeutung auf unterschiedliche Art erklären“, fasste Laurel zusammen. „In erster Linie bedeutet sensibel aber, dass man ein Gespür dafür hat, was um einen herum vorgeht.“ Sie drehte sich um und blickte Penny an.
Doch diese antwortete nicht. Sie hatte den Kopf gegen den braunen Ledersitz gelehnt und sah aus dem Fenster.
„Penny?“, sagte Laurel.
„Was?“ Unschuldig blickte Penny sie an.
Laurel musste sich beherrschen, um nicht laut zu lachen.
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