JULIA EXTRA Band 0281
einzuschüchtern, dass sie vor ihm zu einem Nichts zusammenschrumpften.
Schlagartig fühlte Marcos sich ernüchtert. Er trat in den Aufzug und wartete, bis sich die Türen wieder schlossen.
„Sie haben etwas, das meiner Familie gehört“, stellte der Scheich freundlich und in bestem Oxfordenglisch fest.
Marcos taxierte schnell seine vier Bodyguards, versuchte ihre Gewichtsklasse und Angriffsbereitschaft abzuschätzen und umfasste den Griff seiner Laptoptasche fester, falls er gezwungen sein sollte, sie als Waffe zu benutzen.
Die Tatsache ist allerdings, man hat versucht, sie zu einer Heirat zu zwingen.“
„Und was für einen Besitzanspruch erheben Sie auf die Dame? Meinen Neffen dürstet ebenso nach Ihrem Blut wie meine Nichte Hatima, die Sie einen Entführer nennt. Sie sagen, Rache sei eine Sache der Familienehre und unumgänglich.“
„Aziz al-Maghrib hat kein Recht, von Rache zu reden. Er ist ein Dieb und ein Mörder.“
Die Augen des älteren Mannes weiteten sich. „Sie wagen es, mir derartige Beleidigungen ins Gesicht zu sagen?“
„Es ist die Wahrheit.“
In den dunklen Augen unter den schweren Lidern blitzte so etwas wie Respekt auf. „Mutige Worte. Können Sie das auch beweisen?“
Marcos schüttelte den Kopf. Diese Runde ging an den Scheich.
Der Scheich musterte ihn gelassen und nickte dann kurz. „Also gut. Wenn Ihre Anschuldigung der Wahrheit entspricht, wird Ihnen Gerechtigkeit widerfahren. Sie haben drei Tage Zeit, Beweise zu liefern, so lange werde ich meinen Neffen zurückhalten.“
„Und wenn mir das nicht gelingen sollte?“, fragte Marcos scharf.
Aziz’ Onkel hob gleichmütig die Schultern, doch auf seinem Gesicht lag ein erbarmungsloser Ausdruck. „Dann werden Sie es nicht nur mit meinem Neffen zu tun bekommen.“
Marcos’ Apartment nahm das gesamte Obergeschoss eines eleganten Art-déco-Gebäudes ein. Es bot einen grandiosen Ausblick auf den Paseo de la Castellana und das Finanzviertel Madrids.
Gedankenverloren trat Tamsin mit einer Tasse Kaffee in der Hand auf den umlaufenden Balkon hinaus und konnte sich nur schwer dem Zauber des Sonnenaufgangs entziehen. Aber Marcos fehlte ihr. Ohne ihn fühlte sie sich schrecklich einsam in dem luxuriösen Penthouse – obwohl sie das ihm gegenüber nie zugegeben hätte und es genau genommen auch nicht stimmte. Zwar hatte Marcos am Abend ihren gemeinsamen Strandurlaub abgesagt und sich geweigert, ihr zu erklären, was er plötzlich zu tun hatte und warum, aber er hatte Reyes und sechs weitere Männer vom Sicherheitsdienst in der Wohnung unter ihr einquartiert. Vergeblich hatte Tamsin versucht, sich gegen die unsinnige Bevormundung zu wehren, doch mit Marcos war in diesem Punkt nicht zu reden gewesen.
Und letzte Nacht … im Bett hatte sie ihn auch vermisst.
Sie nahm noch einen Schluck von dem starken spanischen Kaffee, den sie selbst in der makellos weißen Küche zubereitet hatte, die so aussah, als sei sie noch nie benutzt worden.
Ob sie so etwas überhaupt trinken durfte? Was, wenn sie schwanger war? Mit dreiundzwanzig fühlte sie sich absolut nicht reif genug, um Mutter zu werden. Und ein Kind von einem Mann zu bekommen, der sie nicht liebte, gehörte auch nicht gerade zu ihren Traumvorstellungen. Warum hatte er nur solche Angst davor, Vater zu werden?
Tamsin nahm noch einen Schluck Kaffee. Wenn einer darauf hätte verzichten sollen, Kinder in die Welt zu setzen, dann mein Vater, dachte sie bitter. Ständig war er damit beschäftigt gewesen, mit Gott und der Welt über unsinnige Kleinigkeiten zu debattieren und jeden zu verletzten, der dumm genug war, ihn zu lieben.
In der Sterbestunde ihrer Mutter blieb er nicht an ihrer Seite, sondern stritt sich vor dem Krankenzimmer mit dem Verwaltungschef der Klinik über einen angeblichen Arztfehler. Und als er Tamsin vom Tod der Mutter erzählte, tat er es nicht mit liebevollen, tröstenden Worten, sondern lamentierte stattdessen über unfähige Ärzte.
Marcos ist nicht viel anders als er, erkannte sie plötzlich und spürte einen bitteren Geschmack im Mund. Er lebt nur für seine Rache. Egal, wen er dabei verletzt.
Tamsin ging zurück ins Apartment, duschte und zog sich sorgfältig an. Während sie die Wimpern tuschte, betrachtete sie ihr blasses Gesicht im Spiegel. Sie hatte dunkle Ringe unter den Augen, und ihr Herz war schwer wie Blei. Dabei hätte sie überglücklich sein müssen, denn heute war der Tag, an dem sie ihr Hochzeitskleid aussuchen würde.
Was für ein Pech, dass
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