Julia Extra Band 0292
eigentlich Schlafenszeit am Zielort durchhielt, auch wenn es schwerfiel.
Er brauchte dringend Kaffee! Und da er sich hier keinen machen konnte, würde er ins Café Stratos gehen und den Nachmittag damit verbringen, literweise Kaffee zu trinken und sich wieder an Sydney zu gewöhnen.
Bevor er die Jacke anzog, nahm er das Notizbuch aus der Tasche und stellte es aufs Bücherregal. Dabei dachte er an die Besitzerin, an ihr zaghaftes Lächeln, ihre wunderschönen Augen.
Er musste sich etwas einfallen lassen, um ihr das Buch zurückgeben zu können. Aber fürs Erste war ihm durch das Gespräch mit seinem Vater jeder Funke Ritterlichkeit abhandengekommen.
Morgen würde er sich um die Angelegenheit kümmern. Kaffee war jetzt erst einmal das Wichtigste.
2. KAPITEL
Simone konnte nicht schlafen, zu sehr plagte sie die Sorge um ihr Notizbuch. Es schien tatsächlich verloren gegangen zu sein, denn beim Taxiunternehmen war es nicht abgegeben worden.
Aber wo war es bloß? Hatte es doch jemand gefunden und nur noch nicht abgegeben? Las derjenige vielleicht gerade jetzt in ihren Aufzeichnungen? Würde man sie anhand der Bemerkungen identifizieren können?
Und was, wenn ihre Story der Presse zugespielt wurde?
Die Gedanken wirbelten ihr durch den Kopf wie Blätter im Sturm. Schließlich versuchte sie nicht länger einzuschlafen, sondern ging in ihr Arbeitszimmer und setzte sich an den Computer.
Zum x-ten Mal las sie die Mails von Belle und Claire.
Das mit Deinem Notizbuch ist wirklich Pech! Du hast Dir so viel Mühe damit gemacht! Kannst Du den Artikel jetzt überhaupt noch schreiben? Ich stelle Dir gern meine Tex te zur Verfügung, die ich für die Fernsehberichte verfasst habe. Ich glaube allerdings nicht, dass jemand uns mit Deinen Notizen in Verbindung bringt. Mach Dir keine unnötigen Sorgen deswegen. Wahrscheinlich ruht das Buch schon auf einer Müllhalde. Also, halt die Ohren steif.
Alles Gute. Belle.
Dass das Buch bereits vernichtet sein könnte, fand sie zwar tröstlich, aber recht glauben konnte sie es nicht. Claire hatte genauso mitfühlend und aufmunternd reagiert.
Mach Dir bloß keinen Stress. Natürlich ist es frustrierend für Dich, dass Dir Deine Aufzeichnungen abhandenge kommen sind, aber ich denke nicht, dass für uns drei da raus irgendwelche Probleme entstehen.
Hoffentlich haben sie recht, dachte Simone seufzend. Der Verlust wäre nicht so schlimm, wenn sie nicht so viel Persönliches aufgezeichnet hätte. Eigentlich hatte sie nur ein Reisetagebuch verfassen wollen, aber sie hatte sich unterwegs wie befreit gefühlt und alle möglichen Überlegungen, Hoffnungen und Träume zu Papier gebracht.
Außerdem ihre schlimmsten Ängste – und ihre dunkelsten Geheimnisse.
Dort oben in den Bergen hatte sie oft nachts zum Himmel geblickt, wo die Sterne scheinbar zum Greifen nah funkelten, und sie hatte viel an ihre Eltern gedacht.
Beide waren tot. Ihren Vater hatte sie nie kennengelernt, er war vor ihrer Geburt im Vietnamkrieg gefallen. Und mit siebzehn hatte sie dann auch noch ihre Mutter verloren.
An ihren Großvater hatte Simone auf der Reise ebenfalls häufig denken müssen. Er war noch nicht gestorben, im Gegenteil, er war sehr lebendig, aber sie hatte ihn seit zehn Jahren nicht mehr getroffen.
Belle und Claire schienen eine ähnliche Wandlungsphase durchzumachen, was schließlich zu ihrem Abkommen führte: Jede würde versuchen, endlich die Geister der Vergangenheit zu bannen, und gegenseitig würden sie sich dabei nach Kräften unterstützen und ermutigen.
Und so hatte Simone beschlossen, endlich ihren Großvater Jonathan Daintree zu besuchen, den Vater ihrer Mutter, und ihm alles zu beichten – was sie eigentlich schon vor Jahren hätte tun sollen.
Wieder zurück in Sydney und nachts allein in der dunklen Wohnung, schien ihr Mut sie allerdings völlig verlassen zu haben.
Im gespenstischen Licht des Computerbildschirms blickte sie zu der Schachtel im Bücherregal, in der sie sämtliche Weihnachts- und Geburtstagskarten ihres Großvaters gesammelt hatte. Alle diese Karten waren von einem großzügigen Scheck begleitet gewesen, wofür sie sich stets höflich bedankt hatte. Allerdings war das seit einiger Zeit schon alles an Korrespondenz zwischen ihnen.
Und das ist allein meine Schuld, warf Simone sich vor.
Nach dem Tod ihrer Mutter hatte sie die Distanz zu dem alten Mann immer größer werden lassen. Zuerst hatten sie sich noch gelegentlich kurz getroffen, wenn er nach Sydney kam, doch sie hatte
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