Julia Extra Band 0294
sie in das gebräunte markante Gesicht blickte. „Du hast doch wohl nicht im Ernst damit gerechnet, dass die Chance besteht, oder?“
Er zuckte die Schultern. „Darauf gehofft trifft eher zu.“
Ihr Atem beschleunigte sich, obwohl sie schon seit Langem wusste, dass sein Flirten absolut nichts zu bedeuten hatte. „Tut mir leid. Meine Koffer sind schon gepackt.“
„Dad ist am Boden zerstört.“ Harry schlenderte in den Raum, hockte sich auf die Schreibtischkante und fixierte Gina mit einem forschenden Blick aus rauchgrauen Augen.
Sie versuchte zu ignorieren, wie sich der Hosenstoff über seinen muskulösen Schenkeln spannte – und versagte kläglich. „Am Boden zerstört ist reichlich übertrieben. Trotzdem ist es schön zu wissen, dass er mich nicht gern gehen lässt. Aber Susan ist eine sehr fähige Nachfolgerin, wie du weißt.“
Susan Richards – blond, attraktiv und gebaut wie ein Mager-Model – entsprach genau Harrys Typ. In den letzten zwölf Monaten, seit er nach Großbritannien zurückgekehrt war, um seinen Vater nach dessen Herzanfall zu entlasten, kursierten Gerüchte über seine zahlreichen Eroberungen, die angeblich ausnahmslos blond und superschlank waren.
Gina hingegen besaß rote Haare. In der Schule war ihr daher der Spitzname „Karottenschopf“ verliehen worden. Sie selbst zog es vor, ihre leuchtenden Locken als tizianrot zu bezeichnen. Und ihre kurvenreiche Gestalt, zwar durchaus gefragt zu Zeiten von Marilyn Monroe, war inzwischen längst nicht mehr „in“.
Warum also war sie in Harry verliebt, obwohl sie all das wusste und er die Frauen wechselte wie andere Männer die Hemden? Über diese Frage dachte sie seit Monaten nach, ohne einer einleuchtenden Antwort näher zu kommen.
Herzensdinge beruhen nun mal nicht auf Logik.
Sie wusste nur, dass ihre Gefühle im Laufe der Bekanntschaft von schlichtweg überwältigender Lust zu einer verzehrenden unvergänglichen Liebe angewachsen waren. Für ihn hingegen war sie nur die Sekretärin, die er sich mit seinem Vater teilte. Zwar plauderte, lachte und flirtete er gern mit ihr, doch machte er das nicht auch mit jeder anderen Frau?
„Ich dachte, es hätte dir in London nicht gefallen, als du da studiert hast. Sagtest du nicht vor einiger Zeit, dass du es nicht erwarten konntest, wieder nach Hause zu kommen.“
Gina runzelte die Stirn. „Ich habe gesagt, dass ich mich darauf gefreut habe, wieder nach Hause zu kommen“, korrigierte sie ruhig. „Das heißt nicht, dass mir die Stadt nicht gefallen hat.“
Harry musterte sie einen Moment schweigend, bevor er aufstand und nüchtern sagte: „Tja, es ist deine Entscheidung. Ich hoffe nur, dass du es nicht irgendwann bereust. In einer Großstadt kann man sich sehr einsam fühlen.“
„Wenn man niemanden kennt, ja. Aber viele meiner ehemaligen Kommilitonen leben in London. Also ist das kein Problem. Und ich wohne nicht allein, sondern teile mir das Apartment mit einer anderen Frau.“
Sie erwähnte lieber nicht, dass ihr nicht ganz wohl dabei war. Seit sechs Jahren lebte sie allein – in einer kleinen, wunderschön gelegenen Wohnung im Obergeschoss eines großen Hauses am Stadtrand, mit Blick auf den Fluss. Seit dem Auszug aus ihrem Elternhaus genoss sie es sehr, eine eigene Bleibe ganz für sich zu haben, niemandem Rechenschaft ablegen zu müssen, an den Wochenenden ganz nach Gutdünken aufstehen und essen zu können, wann es sie gerade gelüstete. Doch in London waren die Mieten wesentlich höher als in Yorkshire, und obwohl ihr neuer Job gut dotiert war, konnte sie sich keine eigene Unterkunft leisten.
„Vergiss nicht, deine neue Adresse dazulassen.“ Harry war bereits auf dem Weg zur Tür. „Vielleicht schaue ich mal bei dir vorbei, wenn ich für ein paar Tage in London bin, und hau mich auf deinem Sofa aufs Ohr.“
Nur über meine Leiche! „Okay“, sagte sie gelassen und wünschte dabei insgeheim, sie könnte ihn hassen. Denn dann müsste sie nicht umsiedeln.
Doch das entsprach nicht ganz den Tatsachen. Schon bevor sie sich in Harry verliebt hatte, war ihr bewusst geworden, dass sie in einen Trott geraten war und mehr aus ihrem Leben machen musste. Ihre beiden Schwestern und die meisten ihrer Freunde waren inzwischen verheiratet und hatten Kinder; der Umgang mit ihnen war dadurch nicht mehr so intensiv wie früher.
In dem Jahr vor Harrys Rückkehr nach Yorkshire war Gina selten ausgegangen. Denn die einzigen Männer in der Gegend waren total langweilig, von sich
Weitere Kostenlose Bücher