Julia Extra Band 0294
eingenommen oder verheiratet und nur auf der Suche nach ein bisschen Abwechslung vom Ehealltag. Sie hatte sich schon wie eine alte Jungfer gefühlt, die ganz in ihrer Arbeit, der Wohnung und der Rolle als Patentante für anderer Leute Kinder aufging.
Sie starrte auf die Tür, die soeben hinter Harry ins Schloss fiel. Ihre Freunde hielten sie für allzu wählerisch. Vielleicht stimmte das. An Angeboten mangelte es ihr sicherlich nicht. Doch es widerstrebte ihr, sich bemühen zu müssen, um Zuneigung zu einem Mann zu fassen. Entweder funkte es auf Anhieb oder nicht. Außerdem wollte sie nicht unbedingt eine Familie gründen. Worauf sie vielmehr Wert legte, war ein interessantes und aufregendes Privatleben mit Besuchen in Nachtklubs, Theatern und guten Restaurants in angenehmer Gesellschaft. Schließlich war sie erst zweiunddreißig! Die Großstadt lockte.
Wenn er auch nur einen Hauch von Interesse bekundet hätte …
Da dem nicht so war, blieben Unternehmungen wie auch Zweisamkeit im „trauten Heim“ mit behaglichen Stunden vor dem Kaminfeuer und Sonntagsfrühstück im Bett wohl ein unerfüllter Wunschtraum.
Gina schluckte den Kloß in der Kehle hinunter. Sie hatte bereits zu viele Tränen um Harry vergossen. Wie schwer ihr das Abschiednehmen auch fallen mochte, es war aus reinem Selbstschutz unumgänglich. Das wusste sie seit jenem Kuss zu Weihnachten, der für ihn nichts weiter bedeutete als ein rein freundschaftlicher Kuss auf die Wange. Sie dagegen war durch seine Nähe, die Berührung seiner Lippen, den betörenden Duft seines Aftershaves für Stunden aus der Fassung geraten.
Doch dann, am zweiten Weihnachtstag, bei einem Spaziergang mit den Hunden ihrer Eltern auf den verschneiten Feldern am Stadtrand, hatte sie ihn in der Ferne mit seiner damals gerade angesagten Blondine gesehen. Hinter einem Baum versteckt, hatte Gina gebetet, nicht entdeckt zu werden.
Diese bittersüßen Episoden hatten sie zu der Entscheidung gezwungen, ihr Leben zu ändern. Da sie nicht masochistisch veranlagt war, reichte es nicht, nur bei Breedon & Son zu kündigen. Sie musste aus der Stadt verschwinden, damit nicht länger die Gefahr bestand, Harry und seinen „Gespielinnen“ unverhofft über den Weg zu laufen.
Inzwischen war es Anfang April geworden. Vor wenigen Tagen war der Frühling mit aller Macht gekommen. Krokusse und Osterglocken blühten, Vögel bauten Nester. Überall keimte neues Leben. Und so musste Gina die Situation betrachten: als Chance zu einem neuen Leben, nicht als den Anfang vom Ende.
Dennoch begab sie sich am Nachmittag mit einem klammen Gefühl in die Kantine. Es rührte sie, dass sich ihr zu Ehren über hundert Kollegen – fast die gesamte Belegschaft von Breedon & Son – einfanden und ihr ein Navigationssystem zum Abschied schenkten.
„Damit Sie hin und wieder den Weg zurück zu uns finden“, scherzte der Hauptbuchhalter Bill Dent, der ihr das Präsent überreichte.
Sie stand in dem Ruf – nicht zu Unrecht –, dass es ihr an Orientierungssinn mangelte. Daher war sie in den letzen Wochen ständig damit gehänselt worden, wie sie sich in einer Großstadt zurechtfinden wollte.
Mit Tränen in den Augen hielt sie eine kleine Dankesrede. Dabei bemühte sie sich redlich, die große dunkle Gestalt zu ignorieren, die ein wenig abseits vom Pulk stand. Und doch beobachtete sie Harry verstohlen aus den Augenwinkeln und war sich jeder seiner Bewegungen überdeutlich bewusst. So entging ihr auch nicht, dass Susan Richards dicht zu ihm trat, sich auf Zehenspitzen stellte und ihm etwas ins Ohr flüsterte.
Alles in allem erleichterte es Gina, dass sich die Zusammenkunft nach einer guten Stunde aufzulösen begann. Eine unerwiderte Liebe war an sich schon schlimm. Auch noch beobachten zu müssen, wie das Objekt der Begierde von einer unleugbar attraktiven Nebenbuhlerin umgarnt wurde, war geradezu unerträglich.
Als nur noch eine Handvoll Kollegen da war, zog Gina sich in ihr Büro zurück, um ihre letzten Habseligkeiten zu holen. Sie sank auf den Stuhl, blickte sich im Raum um und fühlte sich mit einem Mal unendlich sentimental.
Einen Moment später trat Dave ein, gefolgt von Harry, und sagte kopfschüttelnd: „Gucken Sie doch nicht so kummervoll! Niemand zwingt Sie zu gehen. Ich habe Ihnen oft genug gesagt, dass Sie uns nicht verlassen sollen. Wir alle halten große Stücke auf Sie.“
Leider nicht alle . Sie zwang sich zu lächeln und entgegnete mit fester Stimme: „Es zieht mich nun mal in die große
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