Julia Extra Band 0294
unabhängig geworden. Mir gefällt mein Leben so, wie es ist. Es mit einer anderen Person zu teilen wäre bestenfalls unbequem und schlimmstenfalls ein Albtraum.“
Gina wünschte, sie hätte dieses Gespräch nie begonnen. Sie atmete ganz flach, denn sie spürte einen stechenden Schmerz in der Brust. „Du hast ‚zynisch‘ in deiner Aufzählung vergessen.“
„Du hältst mich für zynisch?“
Sie nickte. „Nicht nur wegen deiner Äußerungen heute Abend, sondern auch in den letzten zwölf Monaten. Ich frage mich sogar, ob du Frauen überhaupt magst.“
Einen Moment lang reagierte er gar nicht. Dann sagte er sanft: „Ich kann dir versichern, dass ich nicht vom anderen Ufer bin.“
„Ich meine doch nicht … Ich wollte nicht sagen, dass du …“
„Ich weiß, was du meinst, Gina. Das war nur meine Art, Ausflüchte zu machen.“
„Oh!“
„Weil du recht hast. Ich bin wirklich ein Zyniker, wenn es um das schöne Geschlecht geht.“
Warum konnte es so deprimierend sein, recht zu haben? Sie verbarg ihre Gefühle und nickte bedächtig. „Hast du irgendwann in deiner frühen Jugend schlechte Erfahrungen gemacht?“ Durch die schnippische Frage wollte sie lediglich die angespannte Atmosphäre auflocken. Dass sie keine detaillierte Antwort erwarten konnte, wusste sie nur zu gut. Im letzten Jahr hatte sich immer wieder gezeigt, dass er ein wahrer Meister darin war, das Thema Vergangenheit abzuwenden.
Doch diesmal verblüffte Harry sie. Er beugte sich vor, nahm eines der Minztäfelchen, die der Kellner zusammen mit dem Kaffee gebracht hatte, und wickelte es sehr gemächlich aus. „Sie heißt Anna, und es war eine heiße Affäre. Wir waren noch sehr jung und verrückt nacheinander. Ich dachte, es würde ewig halten. Aber nach etwa einem Jahr stellte ich fest, dass sich meine Gefühle zu ändern begannen. Ich mochte sie immer noch, aber ich war nicht mehr verliebt. Vielleicht war es von Anfang an nur Lust. Ich weiß es nicht.“
„Und Anna?“
„Sie hat gesagt, dass sie mich von ganzem Herzen liebt. Dann ist sie krank geworden. Eine seltene Form von Krebs. Sie hatte nur noch wenige Monate zu leben, die sie mit mir zusammen als Ehepaar verbringen wollte. Dass alles gelogen war, habe ich erst nach der Heirat herausgefunden. Eine ihrer Freundinnen hat sich im betrunkenen Zustand verplappert. Sie fand die ganze Sache urkomisch.“
„Das tut mir leid“, murmelte Gina mit aufrichtigem Mitgefühl.
„Jedenfalls war Anna kerngesund.“
„Was hast du getan?“
„Ich habe ihr gesagt, dass ich sie verlasse. In der Nacht hat sie sich die Pulsadern in der Badewanne aufgeschnitten.“
Sie traute ihren Ohren kaum und blickte ihn betroffen an. „Und dann?“
„Das war erst der Anfang. Es folgten Monate der Manipulation und Tränen, Drohungen und Wutausbrüche. Zwei weitere angebliche Selbstmordversuche, als ich sie verlassen wollte. Verdammt, ich war jung, fast noch ein Kind. Ich war völlig überfordert, und ich war dumm. Ich habe wirklich geglaubt, dass sie sich umbringen könnte. Schließlich bin ich an einen Punkt gekommen, an dem ich den Verstand zu verlieren drohte. Da bin ich weggegangen. Nach Übersee.“
„Und was hat sie getan?“
„Sie hat mir jeden Penny abgeknöpft, den sie nur kriegen konnte, meinen Namen in den Dreck gezogen und dann ein anderes armes Würstchen geheiratet.“
Betroffen berührte sie seine Hand. „Sie muss sehr krank sein.“
„Anna ist intrigant, rücksichtslos, grausam – natürlich all das unter dem Deckmantel zarter Weiblichkeit. Aber krank?“ Sarkasmus zeigte sich auf Harrys Gesicht. „Das glaube ich nicht. Krankheit hätte ich ihr verzeihen können, aber nicht diese gewissenlose Entschlossenheit, ihren Kopf durchzusetzen, ungeachtet dessen, wen sie dabei mit Füßen tritt.“
Deshalb war er also so strikt dagegen, sich je wieder auf eine feste Beziehung einzulassen. Gina konnte es bis zu einem gewissen Grad nachvollziehen. Trotzdem musste ihm doch klar sein, dass nicht alle Frauen wie Anna waren. Leise sagte sie: „Ich denke doch, dass sie krank war. Ich bin noch nie einer Person wie ihr begegnet. Alle Frauen, die ich kenne, wären empört über so ein Verhalten.“
Er leerte seine Tasse und stellte sie bedächtig zurück auf den Tisch. „Wahrscheinlich hast du recht. Aber es ist nicht mehr wichtig. Wie gesagt, das Leben verändert die Leute. Vielleicht hat sie mir sogar einen Gefallen getan, auf lange Sicht. Ohne Anna wäre ich nicht in die Staaten gegangen
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