Julia Extra Band 0297
mehr der Richtige?“
„Er war mehr als dreißig Jahre der Richtige. Aber mein Bruder hat ihn in den Ruhestand versetzt, als Henry siebzig wurde. Er hat ihn gezwungen, das halb verfallene Pförtnerhaus zu beziehen – ganz wie ein in die Jahre gekommenes Rennpferd, das auf die hinterste Koppel verbannt wird.“
Sein Ton machte mehr als deutlich, was er vom Verhalten seines Bruders hielt.
„Henry kann immer noch arbeiten“, fuhr er fort. „Abgesehen von einer leichten Gicht ist er topfit. Der arme alte Kerl wäre wahrscheinlich aus reiner Langeweile und Vernachlässigung gestorben. Deshalb habe ich ihn nach London geholt. Ich habe ihm gesagt, dass ich ein wenig Gesellschaft bräuchte und seine Erfahrung, damit er ein bisschen Ordnung und Regelmäßigkeit in mein elendes Dasein bringt.“
„Und war Ihr Dasein wirklich so elend?“, fragte Marina, die bei sich dachte, dass es typisch für diesen Mann war, sich derart um das Wohlergehen eines alten und verdienten Butlers zu sorgen.
„Nein, natürlich nicht! Ich war Mitte zwanzig und habe wie Gott in Frankreich gelebt. Henrys Dasein gab Anlass zu Mitleid. Allerdings fing ich schon bald an, meine großzügige Geste zu bereuen. Henry hat mich nämlich beim Wort genommen und tatsächlich Ordnung in mein Leben gebracht.“ Bei der Erinnerung rollte er mit den Augen.
„Wie hat er das angestellt?“, fragte Marina heiter.
„Das wollen Sie lieber gar nicht wissen.“
„Oh, doch! Ich sterbe vor Neugier.“
„Stimmt, Sie sind von Natur aus wissbegierig. Aber bei Ihnen fällt es einem auch wirklich leicht zu erzählen, wissen Sie das?“
„Sagen wir, ich höre es nicht zum ersten Mal. Also … was hat Henry getan?“
„Sie sollten eher fragen, was er nicht getan hat!“, brummte seine Lordschaft und drückte die Klingel. „Zuerst hat er mein Lesezimmer in einen Fitnessraum umgewandelt und mich dort jeden Morgen hineingeschleift, damit ich mein Workout absolviere. Glauben Sie mir, vorher habe ich lediglich den Computer eingeschaltet und Schachfiguren bewegt. Insofern waren die ersten Wochen die reine Hölle. Diese Dinger sind wahre Folterinstrumente.“
„Sie haben Ihnen aber gutgetan“, erwiderte Marina. „Sie wirken nämlich sehr fit.“
„Für diesen Körper habe ich ganz schön gelitten, das kann ich Ihnen sagen.“
Marina fand sein Opfer dennoch gut angelegt. „Was hat er sonst noch getan?“
„Er hat meine Ernährung umgestellt – wenig Cholesterin, wenig Salz. Seitdem macht mir Essen fast gar keinen Spaß mehr. Es sei denn, ich gehe in ein Restaurant und bestelle das fettigste Gericht, das auf der Karte steht!“
Marina lachte, während James eine Grimasse zog.
„Die Krönung seiner Errungenschaften ist jedoch, dass ich mit dem Rauchen aufgehört habe. Keine Ahnung, wie er mich dazu gebracht hat!“
„Er klingt wundervoll!“, sagte Marina.
Da lächelte der Lord endlich einmal ganz entspannt. „Oh, ja, das ist er. Aber ich brauchte einige Zeit, um mich an ihn zu gewöhnen. Jetzt kann ich mir mein Leben ohne ihn allerdings gar nicht mehr vorstellen. Vor Kurzem ist er siebenundsiebzig geworden.“
In diesem Moment ging die Tür auf, und Henry stand da, perfekt gekleidet in grau gestreifte Hosen, weißes Hemd, schwarzes Jackett und anthrazitfarbene Krawatte. Er trug sogar weiße Handschuhe. Marina fiel auf, dass seine schwarzen Schuhe strahlend glänzten – ganz der perfekte Butler.
Früher musste er ein sehr attraktiver, großer Mann gewesen sein. Doch jetzt war sein Rücken nicht mehr ganz gerade, und das stahlgraue Haar wirkte ein wenig schütter. Dennoch hätte sie ihn wesentlich jünger geschätzt als siebenundsiebzig.
Der alte Herr ließ seinen Blick einmal über sie wandern, ohne dass er dabei irgendeine Reaktion preisgab. Dann wandte er sich an seinen Arbeitgeber.
„Das Flugzeug war pünktlich, Mylord?“, fragte er ein wenig förmlich.
„Ein bisschen zu früh sogar, Henry. Das ist Miss Marina Spencer.“
Henry nickte ihr steif zu – entweder lag das am Rheuma, oder es war einfach seine Art. „Wie geht es Ihnen, Miss Spencer?“
„Sie wird darauf bestehen, dass Sie sie Marina nennen, Henry“, schaltete sich der Earl trocken ein, während er seinen Gast nach drinnen führte und den Koffer neben der Tür abstellte.
„Ich verstehe. Sehr wohl. Herzlich willkommen in London, Miss Marina. Ihr Kaffee ist fertig, Mylord, und für die junge Lady habe ich ein komplettes englisches Frühstück vorbereitet. Sie gehören doch
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