Julia Extra Band 0297
irritierenden Blick aus ihren smaragdgrünen Augen auszuweichen. Denn manchmal zwang ihr Anblick ihn, sich an Orte tief in seinem Inneren zu begeben, die zu besuchen ihm mehr als widerstrebte.
Alice kannte ihn besser als jede andere Frau, doch die Dinge, die sie über ihn wusste, waren nicht wichtig. Sich zu erinnern, wie er seinen Kaffee trank oder wie beschränkt seine künstlerischen Fähigkeiten waren, sagte doch nichts über einen Menschen aus. Immer noch waren sie Welten voneinander getrennt, hatten vollkommen unterschiedliche Erfahrungen gemacht. Es war reiner Zufall, dass sie sich nun in diesem altmodischen Hotelzimmer in der Hauptstadt Frankreichs befanden.
„Was möchtest du heute Nachmittag tun?“, fragte er abermals und bewegte die Schultern, als könne er so das Gewicht seiner finsteren Gedanken abstreifen. „Willst du etwas besichtigen?“
„Du meinst wohl heute Abend? Es ist schon fast sechs Uhr. Vom Nachmittag ist nicht mehr viel übrig, Kyros.“
„Und wessen Schuld ist das wohl?“, meinte er sanft und warf stirnrunzelnd einen Blick auf die Uhr.
„Schuld?“, spottete sie.
„Du weißt, was ich meine. Komm her, und küss mich, agape mou.“
„Genau das habe ich schon vor ein paar Stunden getan, womit unsere Tour ins Musée National gestorben war …“
„Ich kann kein Museum mehr sehen“, grummelte er.
„Kyros! Bislang haben wir kaum eines besichtigt!“
Seine schwarzen Augen funkelten schelmisch. „Komm her, und küss mich“, wiederholte er hartnäckig.
Den Moment voll auskostend, schlenderte Alice durch das Zimmer und ließ sich in seine wartenden Arme sinken.
Das Hotel war perfekt, nicht zu groß, nicht zu modern, dafür absolut sauber und so französisch wie eine soupe aux oignons. Die Betten waren aus dunklem Holz, bezogen mit weißen Laken. Das Läuten von Kirchenglocken drang selbst durch die geschlossenen Fenster. Sie befanden sich im Quartier Latin, nicht weit von den Jardins des Plantes entfernt. In dem botanischen Garten gab es einsame schattige Pfade und weitläufige Rasen flächen, auf denen man ausruhen konnte. Kurz: eine willkommene Oase der Ruhe inmitten der hektischen Betriebsamkeit der französischen Hauptstadt.
Alice fürchtete sich vor dem Tag, an dem ihr kleines und unerwartetes Intermezzo mit Kyros sein unweigerliches Ende fand. Denn dann würde auch die Seifenblase zerplatzen, in der sie momentan lebte. Immer wieder befahl sie sich, nicht daran zu denken. Die wenige Zeit, die ihr blieb, durfte sie sich nicht selbst mit düsteren Gedanken verderben.
Zärtlich streifte sie seinen Mund mit ihren Lippen. „Wie war das?“
„Mmm. Tu es noch einmal.“
Diesmal küsste sie ihn lang und leidenschaftlich. Erst das Klingeln von Kyros’ Mobiltelefon unterbrach den stürmischen Kuss. Er streckte die Hand nach dem kleinen Gerät aus und nahm den Anruf auf Französisch entgegen.
„Wer war das?“, frage sie, nachdem er das Gespräch beendet hatte.
„Der Käufer von meinem Olivenöl. Wir sind heute Abend zum Dinner verabredet.“
„Oh.“ Alice versuchte, keine Enttäuschung in sich aufsteigen zu lassen. „Warum hast du das nicht früher gesagt?“
Ja, warum eigentlich nicht? Seltsamerweise hatte er den Geschäftstermin völlig vergessen. Hatte er insgeheim geglaubt, am Ende ihrer kleinen Ferien würde er sich mit ihr langweilen und dankbar für die Auszeit und ein bisschen männliche Gesellschaft sein? Weiter hätte er nicht von der Wahrheit entfernt sein können.
Kyros betrachtete die auf dem Rücken liegende Alice aus den Augenwinkeln. Der dunkle Seidenmorgenmantel war verrutscht und bot ihm einen ganz entzückenden Anblick einer ihrer Brüste. Er zwang sich, wieder an die Dinnerverabredung mit Leon Dupré zu denken. Dem französischen Milliardär würde es ganz und gar nicht gefallen, wenn er, Kyros, den seit Langem feststehenden Termin absagte. Obschon er versucht war, genau das zu tun.
Er überlegte, wie Leon auf Alice reagieren würde. Vielleicht war das die bessere Idee. Und eine aufschlussreiche noch dazu. Wie würde Alice auf einen Mann reagieren, der offensichtlich sehr reich war und sie definitiv attraktiv finden würde?
Sich in dieses eher einfache Hotel einzuquartieren war schlichte Berechnung gewesen. Schließlich war er sich nicht sicher, ob sie sich von Geld blenden ließ. Wäre es nicht die ideale Gelegenheit, es bei dem Dinner herauszufinden? „Möchtest du heute Abend mitkommen?“, fragte er betont gleichgültig.
„Hat dein
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