Julia Extra Band 0300
jedermanns Mitgefühl zu entgehen, ganz zu schweigen von den gut gemeinten finanziellen Hilfsangeboten, die sie niemals annehmen würde.
Hier in dieser Großstadt lebte sie fast anonym, und das gefiel ihr. Nur war London ein raues Pflaster, wenn man kaum Geld hatte. Sich über Wasser zu halten fiel ihr schwer. Aber sie musste es schaffen, bis der Sommer vorbei war und sie in Marchester ihr gewohntes Leben wiederaufnehmen konnte – so qualvoll es auch sein würde ohne ihren Vater.
Gelegenheitsjobs gab es in London genug, aber es war eine elende Schufterei. In den drei Monaten hatte Carrie noch keinen einzigen freien Tag gehabt, und das Geld reichte gerade für die nötigsten Dinge zum Leben.
Und noch eine weitere Sache störte Carrie an der Arbeit in London: Sie wurde oft belästigt. Das hatte sie ihren ersten Job gekostet. Sie hatte in einer Tapas-Bar gearbeitet, und ein Gast hatte sie betatscht. Schockiert hatte sie mit einem heftigen Schlag seine Hand weggestoßen. Der Mann hatte sich über sie beschwert, und Carrie war entlassen worden.
Die Frau in der Job-Agentur hatte kein Mitleid mit Carrie gehabt. „So wie Sie aussehen, sollten Sie daran gewöhnt sein und damit fertig werden können“, hatte sie verächtlich gesagt.
Aber ich bin nicht daran gewöhnt, dachte Carrie unglücklich. Wo sie herkam, benahm sich niemand so. Die Männer hatten gar kein Interesse daran, sich derart zu verhalten. Sie konzentrierten sich auf andere Angelegenheiten. Carrie fand es schlimm, wie sie hier in London behandelt wurde. Allein schon, wie die Männer sie ansahen. So aufdringlich. So unanständig.
Der fantastische Mann in der Galerie hatte sie nicht unanständig angesehen …
Nein, ganz und gar nicht. Sein Blick hatte sie … atemlos gemacht.
Während sie sich an diesen Moment erinnerte, spürte Carrie wieder das Engegefühl in der Brust. Er war wirklich ein Traummann. Reich wohl auch. Weil alle Gäste in der Ausstellung reich oder zumindest gut betucht gewesen waren. Und er hatte ebenfalls danach ausgesehen.
Groß war er gewesen, ein attraktiver dunkler Typ in einem eindeutig maßgeschneiderten Anzug mit Seidenkrawatte, und er hatte obendrein eine Selbstsicherheit, sogar Arroganz ausgestrahlt, als gehöre ihm die Welt.
Carrie verzog den Mund. Wer auch immer der Mann war, er gehörte zu dem London, zu dem sie nicht gehörte! Dem London, das sie nur zu sehen bekam, wenn sie Leute wie ihn bediente.
Unbewusst zog sie die Schultern hoch und ging schneller. Sie fühlte sich einsam und war deprimiert. Indem sie zu Fuß ging, sparte sie Geld und tat etwas für ihre Gesundheit, aber es war eine lange Strecke bis zu ihrem winzigen Einzimmerapartment in Paddington.
Plötzlich blieb Carrie stehen. Vor ihr hatte jemand eine Autotür geöffnet, die ihr den Weg versperrte. Gerade als sie darum herumgehen wollte, fragte ein Mann: „Ist alles in Ordnung mit Ihnen?“
Er sprach Englisch mit einem Akzent, den Carrie nicht erkannte. Sie blickte in das Auto, und ihre Augen wurden groß. Es war der Mann aus der Galerie. Erschrocken fragte sich Carrie, ob er Geld für das ruinierte Kleid seiner Freundin verlangen würde. Doch sie hatte nicht einmal genug Geld für die Reinigung bei sich.
Jetzt stieg er aus, und Carrie trat hastig einen Schritt zurück. Er wirkte größer und sah noch besser aus, als sie ihn in Erinnerung hatte. Unwillkürlich wurde sie rot, obwohl es doch das Dümmste auf der Welt war.
„Geht … geht es um das Kleid?“, platzte sie heraus und umklammerte nervös den Schulterriemen ihrer Handtasche.
Der Mann runzelte die Stirn, was ihn noch bedrohlicher wirken ließ, als es der dunkle Maßanzug und seine Ausstrahlung von Reichtum und Macht ohnehin schon taten.
„Das Kleid Ihrer Freundin, über das ich den Saft geschüttet habe?“
Ihre Frage ignorierte der Mann. „Warum sind Sie nicht in der Galerie?“
„Ich musste gehen.“
Er sagte etwas in einer fremden Sprache. Dann fügte er hinzu: „Sie sind entlassen worden?“
Carrie nickte. „Das mit dem Kleid tut mir wirklich leid. Mr. Bartlett hat gesagt, er würde mit meinem einbehaltenen Lohn die chemische Reinigung bezahlen. Deshalb hoffe ich, dass es noch zu retten ist.“
„Die Sache ist für mich erledigt“, erwiderte der Mann ungeduldig. „Möchten Sie Ihren Job zurückhaben? Wenn ja, werde ich dafür sorgen. Was passiert ist, war eindeutig ein unglücklicher Zufall.“
Vor Verlegenheit wurde Carrie noch roter. „Nein, bitte nicht. Ich meine, danke
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