Julia Extra Band 0339
man war der Typ dazu, was auf ihn nicht zutraf. Es hatte ohnehin nur einen Plan, und der lautete: Zieh es irgendwie durch!
„Sie meinen, was ich vorhabe?“ Sie wirkte plötzlich unbehaglich. „Ehrlich gesagt, weiß ich es selbst noch nicht so genau …“
„Sie fahren also nicht zu Ihrer Familie?“
„Nein. Da ich wegen der Aufführung am Heiligen Abend hier sein muss, habe ich beschlossen, auch den Rest der Feiertage in Canterbury zu verbringen.“
Morgan vermied es, ihn dabei anzusehen, und Nates Eindruck, einen wunden Punkt berührt zu haben, verstärkte sich. „Ihre Eltern werden sicher enttäuscht sein, Sie nicht bei sich zu haben“, tastete er sich behutsam vor.
„Ich glaube, meine Mutter ist zu sehr mit ihrer Midlifecrisis beschäftigt, um mich zu vermissen. Nach dreiundzwanzig Dienstjahren bei einer Versicherung hat sie von einem Tag auf den anderen gekündigt, ihren Rucksack gepackt und den nächsten Flieger nach Thailand bestiegen.“ Sie lachte kurz auf, aber es klang kein bisschen fröhlich. „Beim Abschied sagte sie, dass sie sich jetzt schon darauf freuen würde, sich am ersten Weihnachtstag am Strand von Phuket zu aalen.“
„Und was ist mit Ihrem Vater?“
Morgan zuckte betont gleichgültig die Schultern. „Er und meine Mutter haben sich getrennt, als ich elf war. Er hat inzwischen eine neue Familie gegründet, und jedes Mal, wenn ich dort bin, frage ich mich, wie ich da hineinpassen soll. Wobei er sich vermutlich dieselbe Frage stellt.“
Nate wusste nicht, was er dazu sagen sollte. Seine Familie mochte eine etwas raue Art haben, aber das Gefühl, nicht zu wissen, wie er dort hineinpassen sollte, war ihm fremd.
„Aber die Situation hat auch eine gute Seite“, fuhr Morgan fort, bevor er dem Drang nachgeben konnte, sie tröstend in den Arm zu nehmen. „Auf diese Weise lerne ich wenigstens, alle Festvorbereitungen allein zu treffen, worüber ich ausgesprochen froh bin. Schließlich will man nicht durchs Leben gehen, ohne zu wissen, wie man einen Baum schmückt oder eine Truthahnfüllung zubereitet.“
Sie war keine gute Lügnerin. Sie war nicht froh, es zu lernen. Aber Nate widersprach ihr nicht.
„Nein“, sagte er sanft, wenn auch ohne Überzeugung. „Das will man nicht.“
„Einen Truthahn werde ich natürlich nicht machen“, fügte sie hinzu. „Für mich allein wäre das ziemlich albern.“
„Sie werden an Weihnachten nicht allein sein.“
Warum hatte er das gesagt? Es klang, als wäre er sich dessen völlig sicher, was absolut nicht der Fall war.
Plötzlich verzog sie das Gesicht, aber nicht auf die süße Art wie vorhin, als sie feststellte, dass der Kakao kalt geworden war.
„Sie werden doch jetzt nicht weinen?“ Nate versuchte, sich seine Panik nicht anmerken zu lassen.
„Ich hoffe nicht.“
„Ich auch.“
Wieder kämpfte Nate gegen diesen fürchterlichen Impuls an, sie in seine Arme zu ziehen und wie ein kleines Kind hin und her zu wiegen. Stattdessen – und das war schon schlimm genug – nahm er ihre Hand und hielt sie fest in seiner.
Obwohl es, gemessen an ihrem mittlerweile unübersehbaren Kummer, nur eine kleine Geste war, schien eine enorme Wirkung von ihr auszugehen. Jedenfalls klammerte Morgan sich an seiner Hand fest, als hätte er ihr einen Rettungsring zugeworfen.
Das hätte Nate Zeichen genug sein sollen, um unverzüglich das Weite zu suchen, aber er tat es nicht. Er drückte ihre Hand sogar noch etwas fester und beschloss, sie so lange an Ort und Stelle zu lassen, wie Morgan sie brauchte.
Natürlich war er nicht dumm, und so wusste er genau, was das bedeutete. Er hatte das Gefängnis seines Schmerzes verlassen. Sehr zögerlich zwar, aber immerhin weit genug, um die Hand nach jemand anderem auszustrecken.
Ein warmer Lichtstrahl durchdrang die Finsternis, in der er seit zwei Jahren lebte, und dann sah Nate die ganze Wahrheit: Seit Morgan ihm an diesem Abend die Tür geöffnet hatte, versuchte der dunkle Ort, der seit Cindys Tod sein Lebensraum war, ihn zurückzurufen.
Und er wäre diesem Ruf beinah gefolgt.
Denn so verrückt es auch klingen mochte, hatte dieses Zombiedasein auch etwas Tröstliches. Abgesehen davon, dass Nate sich um Ace kümmern musste, was alles andere als eine lästige Pflicht für ihn war, stellte dieses Dasein kaum Forderungen an ihn. Er musste nichts fühlen und wurde nicht in die Probleme anderer hineingezogen. Vor allem jedoch musste er sich nicht innerlich weiterentwickeln oder gar etwas von sich geben.
Aber
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