Julia Extra Band 348
erschien der Besitzer und redete in einer Sprache auf sie ein, die Veronica nicht verstand. Er schien Raj zu kennen, denn beide unterhielten sich angeregt. In gebrochenem Englisch versicherte der Mann Veronica, dass das Essen gleich kommen würde. Dann verschwand er in der Küche.
„Du fragst dich bestimmt, was an diesem Restaurant so besonders ist, oder?“, erkundigte Raj sich.
„Wahrscheinlich steht es nicht in jedem Reiseführer, und die meisten Touristen gehen achtlos daran vorbei“, antwortete sie.
„Stimmt. Ein Grund ist, dass es hier nicht so überlaufen ist. Doch es gibt noch einen anderen Grund: Genau an diesem Tisch habe ich gesessen, als ich beschloss, das Erbe meines Vaters anzutreten und in das Haus zu ziehen, das du schon kennst.“
Da sie wusste, dass er ihr soeben ein besonderes Geheimnis verraten hatte, griff sie über den Tisch hinweg nach seiner Hand.
„Für mich war das ein großer Schritt. Bis ich mich in dem Haus eingerichtet hatte, habe ich nur in Hotels gewohnt. Es ist für mich das erste Zuhause, das ich jemals hatte.“
Das Geständnis rührte sie. Das Bild des kleinen Jungen, der nie ein Weihnachtsfest erlebt hatte, tauchte vor ihrem geistigen Auge auf. Dieser Mann hatte lange gewartet, bis er sich ein eigenes Zuhause geschaffen hatte.
„Du hast nie lang an einem Ort gelebt. Stimmt’s?“ Für ein Kind war es traumatisch, wenn es seine gewohnte Umgebung verlassen musste. Allmählich begriff Veronica, wie sehr er damals gelitten haben musste.
„Als Kind habe ich mir nichts sehnlicher gewünscht als ein eigenes Zimmer, ein eigenes Bett, eigenes Spielzeug. Aber sobald ich meinen Koffer ausgepackt hatte, sind wir wieder weitergezogen.“ Sein Blick wirkte zugleich hart und traurig.
„Raj“, flüsterte sie. Ihre Augen füllten sich mit Tränen. Sie wollte ihn in den Arm nehmen, ihn trösten, seinen Schmerz lindern.
Er beugte sich zu ihr und küsste sie. „Ich habe dir das nicht erzählt, um Mitleid bei dir zu wecken.“
Mit einer zärtlichen Geste streichelte sie sein Gesicht. „Das ist es nicht. Ich bin dir nur dankbar, dass du mir vertraust und es mir erzählt hast.“
„Es gibt keinen Menschen, dem ich es lieber anvertraut hätte.“ Er nahm ihre Hand und küsste die Innenfläche.
Sie bekam einen Kloß im Hals und starrte auf das bunte Tischtuch. Wenn er die ganze Wahrheit über sie erfahren würde, hätte er bestimmt keine so hohe Meinung mehr von ihr.
Und doch. Sie musste es ihm erzählen. „Raj …“
„Ja?“
In diesem Augenblick erschien ein Kellner mit einem Tablett, und der Mut verließ sie wieder. „Ach, nichts.“
Bald darauf standen köstliche Speisen auf dem Tisch, und sie aßen und genossen den Ausblick, bis Raj die Rechnung beglich und sie wieder auf die Straße traten.
Auf dem Rückweg zu seinem Haus fuhren sie durch die wunderschöne tropische Landschaft Goas. Zuerst kamen sie an einem alten Pagodentempel mit reich verziertem, spitzem Turm vorbei, kurz danach an einer Kirche, die eindeutig aus der Zeit der Portugiesen stammte. Veronica sog die kontrastreiche Umgebung begeistert in sich auf.
Ein wunderschöner Flecken Erde, kein Wunder, dass Raj sich hier wohlfühlte.
Obwohl sie ursprünglich vorgehabt hatte, sich nachmittags mit ihren Mitarbeitern zu treffen, reichte ein leidenschaftlicher Blick des Mannes, den sie liebte, um sie von ihren Plänen abzubringen. Die nächsten Stunden verbrachten sie im Bett, umarmten, küssten einander und erklommen den Gipfel der Leidenschaft ein ums andere Mal. In seinen Armen vergaß sie die ganze Welt um sich herum.
Doch als die Sonne über dem Meer versank und sie eng umschlungen dalagen, klopfte es plötzlich an der Tür.
„Ja, bitte?“, sagte Raj schlaftrunken.
„Ein Anruf für die Frau Präsidentin.“
Veronica hob den Kopf. Musste die Welt da draußen ihrem Traum schon jetzt ein Ende setzen? Aber sie hatte keine andere Wahl. Das wussten sie beide.
„Wer ist es?“, fragte er.
„Ein gewisser Monsieur Brun.“
12. KAPITEL
Veronica nahm den Anruf auf der Terrasse entgegen, nachdem sie sich eilig ein Kleid übergeworfen und das Haar zusammengebunden hatte. Neben ihr saßen Georges, der die Verantwortung für ihren Mitarbeiterstab trug, und ihre Sekretärin Martine.
Sie sieht aus wie eine Königin, dachte Raj mit Besitzerstolz. Da sie mit dem ehemaligen Präsidenten von Aliz Französisch sprach, verstand Raj zwar nicht, was sie sagte, aber sie schien das Gespräch würdevoll zu meistern.
Die
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