Junger, Sebastian
akustisches Signal in fünfzehn
Millisekunden verarbeiten - ungefähr die Zeit, die ein Geschoss braucht, um
zehn Meter zurückzulegen. Die Amygdala ist schnell, aber in ihren Fähigkeiten
sehr eingeschränkt: Alles, was sie kann, ist Reflexe auszulösen und zu warten,
dass diese vom Bewusstsein registriert werden. Diese Reaktion wird
Schreckreaktion genannt, und sie besteht aus einer Reihe schützender
Bewegungen, die sich in fast jeder Situation als nützlich erweisen würden. Wenn
etwas Furchterregendes oder Unerwartetes geschieht, handeln alle Menschen exakt
gleich: Sie blinzeln, kauern sich zusammen, winkeln die Arme an und ballen die
Fäuste. Das Gesicht verzieht sich zur sogenannten Angstgrimasse: Die Pupillen
weiten sich, die Augen werden groß, die Brauen heben sich, Mund und Lippen
werden zurück und nach unten gezogen. Man schaue mit diesem Gesichtsausdruck in
den Spiegel und man erkennt ihn nicht nur auf den ersten Blick, sondern man
registriert auch, dass er tatsächlich ein Angstgefühl auszulösen scheint.
Es ist,
als sei die neurale Leitung eine Verbindung in beide Richtungen, als würde der
Gesichtsausdruck Angst auslösen ebenso wie von ihr ausgelöst werden.
Das
Videotape, das ich während des Hinterhalts in Aliabad aufnahm, zeigt, dass
jeder einzelne Mann sich zusammenkauerte, als in der Ferne Knallen zu hören
war. Sie tun das nicht als Reaktion auf einen lauten Ton - was die Evolution
uns angeblich gelehrt hat -, sondern als Reaktion auf das leisere Geräusch der
Geschosse, die an uns vorbeizischen. Die Amygdala bedarf nur einer einzigen
negativen Erfahrung, um zu entscheiden, dass etwas eine Bedrohung ist, und
schon nach einem Feuergefecht hat jeder Mann im Platoon gelernt, auf das
Geräusch der Geschosse zu reagieren und den viel lauteren Lärm zu ignorieren,
den die Männer verursachten, die in seiner Nähe das Feuer erwiderten. In
Aliabad duckten sich die Männer ein oder zwei Sekunden lang und richteten sich
dann wieder auf, um sich durch Rufe zu verständigen und in Deckung zu gehen. In
diesen Augenblicken entschieden ihre höheren Hirnfunktionen, dass die Bedrohung
eher Aktivität verlangte als Bewegungslosigkeit, und brachten alles auf
Hochtouren: Puls und Blutdruck auf Herzanfall-Niveau, ungezügelte Adrenalin-
und Noradrenalin-Ausschüttung, Blut, das den Organen entzogen wird und Herz,
Hirn und wichtige Muskelgruppen überschwemmt.
»Nichts
ist damit vergleichbar, nichts auf der Welt«, sagte mir Steiner nach dem Kampf.
»Wenn es draußen zwanzig Grad unter Null ist, schwitzt du. Und wenn es fünfzig
Grad plus ist, ist dir scheißkalt. Eiskalt. Der Adrenalinstoß ist einfach unvorstellbar.«
Das
Problem besteht darin, dass es schwierig ist, mit einem Gewehr zu zielen, wenn
einem das Herz bis zum Hals schlägt. Das verweist auf eine Ironie des modernen
Kampfeinsatzes:
Er setzt
den Körper außerordentlich heftigen Anforderungen aus, erfordert aber total
kontrollierte Ruhe, um erfolgreich ausgeführt zu werden. Komplexe Motorik wird
bereits bei einem Pulsschlag von 145 eingeschränkt, was bei einem Schwertkampf
eher unerheblich wäre, die Zielgenauigkeit mit einem Gewehr jedoch erheblich
beeinträchtigt. Bei einem Puls von 170 kommt es zum Tunnelblick, man verliert
die Tiefenwahrnehmung, und die Hörfähigkeit reduziert sich. Und bei Puls 180
gerät man in eine Schattenwelt, in der sich das rationale Denken auflöst und
die Kontrolle über die Ausscheidungsorgane verloren geht. Gleichzeitig verlegt
sich der Mensch auf die primitivsten Formen der Überlebenssicherung:
Schreckstarre, Flucht und Unterwerfung.
Um
wirkungsvoll zu funktionieren, muss der Soldat zulassen, dass seine
Vitalfunktionen bis an ihre Grenzen hochgepeitscht werden, ohne dass dadurch
Konzentration und Kontrolle ruiniert werden. Eine Studie, die während des Vietnamkriegs
von der Navy durchgeführt wurde, kam zu dem Ergebnis, dass Piloten des
Kampfflugzeugs F4 Phantom beim Landen auf einem Flugzeugträger eine höhere
Herzschlagfrequenz aufwiesen als Soldaten im Kampf und doch so gut wie niemals
Fehler machten (die ja auch lebensgefährlich gewesen wären). Um sich ein Bild
zu machen, welches Feingefühl für eine solche Landung notwendig ist, mache man
sich klar, dass ein Flugzeugträger, eine Meile entfernt auf hoher See, nicht
größer erscheint als ein Radiergummi, den man mit von sich gestrecktem Arm
hält. Das Flugzeug legt diese Strecke in sechsunddreißig Sekunden zurück und
muss auf einem Teilstück des
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