Junger, Sebastian
Ich lag einmal mit ihm unter Beschuss, und dabei lehnte
er sich an ein paar Sandsäcke und sagte Sachen, die alle zum Lachen brachten,
während uns Heckenschützengeschosse über die Köpfe pfiffen. »Wir nennen ihn
Freddy, den Single-Shot-Spezialist«, rappte er, »wir glauben, dass er ein blinder
afghanischer Opa zwischen fünfundsechzig und siebzig ist ...«
Hunter war
in der gesamten Company für seine Freddy-Nummer bekannt. Er tat so, als zöge er
sich an einem imaginären Hilfsseil einen Berghang hinauf, unentwegt »Allahu
Akbar« murmelnd, bis er schließlich sein Gewehr von der Schulter
nahm und am Schaft entlang nach dem Verschluss tastete. Die blinden Augen
himmelwärts gerichtet, zog er den Verschluss zurück, beförderte eine imaginäre
Patrone in die Kammer und feuerte. »Alluha Akbar!« Dann lud
er nach und feuerte nochmals. Ich fragte Hunter, warum er den Heckenschützen
für blind hielt. »Weil er bisher noch niemanden getroffen hat«, erwiderte er.
Nach ein
paar Einsatzmonaten erfand Hunter den Satz »Damn the Valley«, der schnell zum
inoffiziellen Slogan der ganzen Company wurde. Er schien nicht die Kurzformel
dafür zu sein, mit welchen Gefühlen die Männer dem Krieg begegneten - die
waren viel zu kompliziert, um sie mit drei Wörtern auszudrücken -, aber doch
dafür, was der Krieg ihnen antat: Er brachte ihre Freunde um und ließ sie
mitten in der Nacht vor Panik aufschrecken, nahm ihnen ihre Freundinnen weg und
löschte ein ganzes Jahr - nein, sogar fünfzehn Monate - ihres Lebens aus. Sie
befanden sich im dritten Lebensjahrzehnt auf diesem Planeten, und einen
erheblichen Teil davon sollten sie in einem Tal verbringen, das sechs Meilen
lang und sechs Meilen breit war und das sie vielleicht nicht lebend verlassen
würden. Verfluchtes Tal. Damn the Valley: So sah man es noch in weiter Ferne
an Hüttenwänden und in Latrinen des Luftwaffenstützpunkts Dschalalabad, und
viele Männer hatten es sich auf den Arm tätowieren lassen, gewöhnlich als
»DTV«.
Hunter
entstammte keiner Soldatenfamilie und erzählte mir, die Entscheidung, sich zu
verpflichten, habe seine Eltern mit gewissem Stolz erfüllt, aber auch verwirrt.
Doch das hatte keine Bedeutung mehr: Jetzt war er hier draußen, und es ging um
nichts anderes mehr, als lebend nach Hause zurückzukehren. Es war eine
seltsame Ironie des Krieges, dass die politischen Aspekte der Sache völlig
irrelevant wurden, sobald man selbst an Ort und Stelle war oder der Sohn mitten
drinsteckte. Und eine Ironie, dass sehr konservative Familien und sehr liberale
- und da gab es einige - schließlich einen fast identischen Standpunkt
vertraten. Misha Pemble-Belkins Vater war Gewerkschaftsführer und hatte gegen
alle amerikanischen Kriege der vergangenen vierzig Jahre protestiert, und doch
waren er und seine Frau mächtig stolz auf ihren Sohn. Pemble-Belkin durfte als
Kind keine Spielzeugwaffen besitzen, nicht einmal Wasserpistolen, sodass er und
sein Bruder krumme Stöcke sammelten und so taten, als ließe sich damit
schießen. Die Männer des 2 nd Platoon kürzten Pemble-Belkins Namen in
»PB« ab, woraus unvermeidlich »Peanut Butter« und schließlich »Butters« werden
musste. Er sprach langsam und sehr leise, besonders am Funkgerät des Platoons.
Außerdem spielte er Gitarre und machte auf einem Skizzenblock Zeichnungen vom
Tal. Er behauptete, etwas anderes gar nicht zeichnen zu können. An Butters war
ein Kunststudent verloren gegangen, aber er war nun mal Fallschirmjäger im
Korengal-Tal. Er war zur Army gegangen, nachdem er ein ganzes Jahr im Auto
gelebt und nichts getan hatte als Snowboardfahren.
Während
der ersten sechs Monate des Einsatzes quetschten sich die Männer in ein Zelt
und später in eine kleine primitiv gemauerte Hütte am Fuß des KOR. Draußen vor
der Tür standen eine Sperrholzkiste voller Zwei-Liter-Flaschen Wasser, ein
kaputter Bürostuhl und einige Munitionskisten als Sitzgelegenheiten. Dort
versammelten sich die Männer, um zu rauchen und zu reden. Der restliche Teil
des KOP befand sich höher am Berg - der Landeplatz, das Küchenzelt und die
Latrinen -, und um irgendwo hinzukommen, wenn geschossen wurde, musste man sich
zwischen ein paar Bäumen hindurchschleichen und dann an der
Müllverbrennungsgrube und der Fahrbereitschaft vorbeikraxeln. Der einzige
andere Weg führte über den Landeplatz, doch der war zu beiden Seiten des Tals
weit offen. Der kaputte Bürostuhl war ziemlich gut gedeckt, und die Männer
saßen dort und
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