Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Junger, Sebastian

Junger, Sebastian

Titel: Junger, Sebastian Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: War
Vom Netzwerk:
verwirrt gewesen und hätten nicht gewusst, was
sie tun sollten. Konfrontiert mit der Aussicht, den bescheidenen Rückhalt zu
verlieren, den sich die Amerikaner in der Nordhälfte des Tals verschafft
hatten, vereinbarte der Commander des Battalion, persönlich vor den Ältesten
zu dem Zwischenfall Stellung zu nehmen. Im Schatten einiger Bäume am Ufer des
reißenden Pech erklärte Lieutenant Colonel Ostlund, dass die Todesfälle Ergebnis
eines tragischen Fehlers seien und er alles in seiner Macht Stehende tun
werde, um es wiedergutzumachen. Das beinhalte auch finanzielle Entschädigungen
für die trauernden Familien. Nach diversen entrüsteten Reden verschiedener
Ältesten stand ein sehr alter Mann auf und sprach die Dorfbewohner an.
    »Der Koran
bietet uns zwei Möglichkeiten an: Rache und Vergebung«, sagte er. »Aber der
Koran sagt auch, dass Vergebung besser ist, und daher werden wir vergeben. Wir
erkennen an, dass es sich um einen Fehler gehandelt hat, und daher werden wir
vergeben. Die Amerikaner bauen uns Straßen und Schulen, und deswegen werden wir
vergeben.«
    Die
Einsatzregeln der Amerikaner verbieten es den Soldaten im Allgemeinen, ein
Haus anzugreifen, solange niemand von dort aus schießt, und warnen davor, etwas
unter Beschuss zu nehmen, wenn sich Zivilisten in der Nähe aufhalten. Die
Soldaten dürfen auf Personen schießen, von denen sie beschossen werden, und
auf Personen, die eine Waffe tragen oder ein Funkgerät in der Hand halten. Die
Taliban wissen das und lassen alles, was sie brauchen, versteckt in den Bergen
zurück. Wenn sie einen Angriff durchführen wollen, gehen sie mit leeren Händen
zu ihren Feuerstellungen und greifen dort zu ihren Waffen. Sie sorgen auch
dafür, dass Kinder in ihrer Nähe sind, wenn sie ihre Funkgeräte benutzen. Die
Amerikaner verzichten in solchen Situationen darauf, zu schießen, denn
abgesehen von den naheliegenden moralischen Problemen erschwert das Töten von
Zivilisten die Kriegsführung erheblich. Das sowjetische Militär, das 1979 in
Afghanistan einmarschierte, hat eben das nicht verstanden. Man kam mit einer
massiven, schwer bewaffneten Streitmacht, bewegte sich in riesigen Konvois und
bombardierte alles, was sich bewegte. Man demonstrierte beinahe lehrbuchmäßig,
wie man einen Aufstand nicht bekämpfen
sollte, und sieben Prozent der Vorkriegsbevölkerung kamen ums Leben. Es war
eine echte Volkserhebung, die schließlich die Sowjets vertrieb.
     
    Die
Korengali stammen ursprünglich aus Nuristan, einer Enklave zumeist Persisch
und Pashai sprechender Stammesangehöriger, die Schamanismus praktizierten und
glaubten, dass die Felsen und Bäume und Flüsse um sie herum Seelen besaßen.
Die Nuristani konvertierten erst zum Islam, als die Armeen von König Abdur
Rahman Khan 1896 einmarschierten und sie dazu zwangen. Die Menschen, die heute
unter dem Namen Korengali bekannt sind, siedelten zur Zeit der großen Bekehrung
an ihrem gegenwärtigen Standort und brachten sowohl ihren neuen islamischen
Glauben wie ihre ungebändigte, von Clan-Sitten geprägte Lebensweise mit. Sie
legten an den Steilhängen des Tals terrassenförmige Weizenfelder an, bauten
Steinhäuser, die Erdbeben widerstehen konnten (und 250-Kilo-Bomben, wie sich
herausstellen sollte), und machten sich daran, die Zedernwälder auf den
Bergrücken abzuholzen. Die Männer färben ihre Barte rot und umranden die Augen
mit schwarzem Kajal. Die Frauen gehen unverschleiert und tragen farbenfrohe
Kleider, in denen sie auf den Feldern wie tropische Vögel wirken. Die meisten
Korengali haben noch nie ihre Dörfer verlassen und so gut wie keine Vorstellung
von der Welt, die jenseits des Taleingangs liegt.
    Die
Menschen sind jedoch nicht das einzige Problem: Auch der Krieg verlief nicht
lehrbuchmäßig, denn er wurde auf einem Schauplatz geführt, der die Achsen der
Fahrzeuge brechen ließ, die Hubschrauber zum Absturz brachte, jeden Kampfgeist
abwürgte und lang gehegte Vorstellungen umkrempelte, sodass nur wenige
militärische Einsatzpläne auch nur eine Stunde überdauerten. Die Berge bestehen
aus Sedimentgestein, das vor Hunderten von Millionen Jahren zu Schiefer
zusammengepresst und dann nach oben gedrückt worden ist. Intrusionen aus
hartem weißem Granit durchziehen den Schiefer wie Rippen eines Tierkadavers.
Sogar die Bäume sind hart: knorrige Steineichen mit stacheligen Blättern und
Zweigen, die sich in der Kleidung verhaken und nicht loslassen wollen. Stechpalmenwälder
reichen hinauf bis auf

Weitere Kostenlose Bücher