Jussifs Gesichter
Leugnung oder Geständnis, Strafeoder Verzeihen, Erinnern oder Vergessen hingen ab von dem Platz, wo man saß, hingen ab von dem Blickwinkel, unter dem man sie im Auge hatte. So taten es die Leute hier, in der »Medizinstadt«, in der Zentrale der Gerichtsmedizin. Jeder erzählte die Geschichte, die zu ihm passte.
Als Jussif sich wieder mit dem Koffer in der Hand auf der Straße befand, hielt er inne, um über seine Lage nachzudenken. Beim Hinausgehen hatte er in Erwägung gezogen, ein Taxi zu mieten und zum Abu-Ghraib -Friedhof zu fahren. Jetzt aber erschien ihm dieser Gedanke unsinnig. Vielleicht war es besser, sich zuerst in die Raschid-Straße zu begeben, um den Laden Josef Karmalis, Josef K.s, aufzusuchen, falls dieser noch dort war. Er könnte seinen alten Personalausweis zurückverlangen, den er vor Jahren, bei seinem letzten Besuch, dort vergessen hatte. Er könnte ihn auch bitten, ihm neue Papiere auf einen neuen Namen auszustellen. Warum eigentlich nicht? Mit einem neuen Namen könnte er die Geschichte hinter sich lassen. Er könnte sein altes Haus aufsuchen und sich nach seiner Tante erkundigen, die über die Sterbepapiere seines Bruders verfügte.
Weil es ihm schwer fiel, sich in dieser Angelegenheit zu entscheiden, stellte er den Koffer für einen Augenblick auf den Boden und warf eine Münze, um mit deren Hilfe herauszufinden, wohin er sich zuerst wenden sollte. Doch als die Münze zu Boden fiel, hob er sie nicht auf. In dem Moment nämlich, als er sich bücken wollte, sah er auf der anderen Straßenseite, dort, wo sich das Eingangstor zum Verteidigungsministerium befinden musste, eine alte verschleierte Frau sitzen. Sie sah nicht so aus, als sei sie eine Bettlerin. Sie sprach deutlich vernehmbar, aber nicht mit den Passanten, sondern mit sich selbst.
Jussif nahm seinen Koffer auf und ging langsam in Richtung Brücke. Alles ist ansteckend, sagte er sich, das Vergessen und das Erinnern. Sollte die Alte eine Ausnahmegenehmigungerwirkt haben, um sich dort hinsetzen zu dürfen? Vielleicht gab es für sie keinen anderen Ort. War es möglich, dass sie dort all die Jahre ausgeharrt hatte? Vor zwanzig Jahren und drei Monaten hatte er sie schon einmal vor dem Gebäude hocken gesehen. Am Mittwochmorgen, dem 2. Februar 1984, war er aus der entgegengesetzten Richtung gekommen, aus Schawaka. Er trug damals zwar einen anderen Namen, aber das hielt ihn nicht davon ab, gewisse Risiken einzugehen. An jenem Tag war er mit sechs anderen Soldaten zur Brücke hinabgegangen. Später nannten sie sich »die glorreichen Sieben«, in ihrem Bataillon waren sie aber »die Saalwächter«. Da der Sicherheitsoffizier ihres Bataillons kläglich daran scheiterte, sie zum Beitritt in die herrschende Partei zu bewegen, verbot er ihnen, an den Waffen ausgebildet zu werden oder sie, wie die anderen Soldaten ihres Bataillons, zu tragen. Er erlaubte ihnen nicht einmal, die militärischen Anlagen zu bewachen, sondern teilte sie zur Aufsicht über den Schlafsaal und alle damit zusammenhängenden Aufgaben ein. Denn die Akte, die der Geheimdienst seiner Stadt an die Kaserne geschickt hatte und die unter dem Namen Harun Wali geführt wurde, dem Namen seines Freundes, des Schriftstellers, der ihm diesen überlassen hatte, diese Akte besagte, dass sein Freund ein »gefährlicher Regimegegner« sei. Es war um die Mittagszeit, als sie in ein Restaurant am Platz der Märtyrer einkehrten. Ein dünner Feldwebel namens Daham, der sie anführte, riet ihnen: »Esst euch satt«, als wüsste er, dass sie hungern müssten, sobald sich die Tore des Geheimdienstgefängnisses hinter ihnen schlossen. Auch damals hatte die Alte dort gesessen, nicht weit vom Eingangstor des Verteidigungsministeriums. Als sie in das Ministerium eingetreten waren, hatte sich Jussif nochmals umgedreht, um die Alte zu betrachten – wie jetzt, nur dass er aus der entgegengesetzten Richtung kam.
Alles war ansteckend, sogar die Erinnerungen. Jussif erinnertesich jetzt, dass die Alte an jenem kalten Wintertag nicht allein dort gesessen hatte. Neben ihr saß ein kleines Mädchen, das die Alte bei der Hand hielt. Es drehte den Oberkörper nach rechts, um den Soldaten mit den Blicken folgen zu können. Zuerst erkannte er die Kleine nicht, aber plötzlich war ihm klar, dass sie das kleine Mädchen mit den grünen Augen, den blonden Zöpfen und dem blauen T-Shirt war. Doch als er sich dessen noch einmal vergewissern wollte, fiel das schwere Tor des Verteidigungsministeriums hinter seinem
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