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Jussifs Gesichter

Jussifs Gesichter

Titel: Jussifs Gesichter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Najem Wali
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Rücken bereits ins Schloss. Er hatte gerade noch erkennen können, dass das Mädchen eine abgenutzte blaue Bluse trug und sich vorbeugte, um ihn sehen zu können.
    Sechs Wochen Gefängniszelle und jeden Tag Folter. Vor dem Schlafen, das sich nicht sehr von der Folter unterschied, besuchten ihn wieder und wieder die Blicke des Mädchens, und er versuchte, sich ihr Gesicht zu vergegenwärtigen. Gedankenverloren schweifte er dabei ab, weit weg von seinen sechs Kameraden, die – wie er – mit sechzig anderen Insassen in dieser höchstens zwanzig Quadratmeter großen Gefängniszelle festgehalten wurden. Wenn er sich des Kindergesichts erinnerte, erschien vor seinem inneren Auge das kleine Mädchen mit den blonden Zöpfen, den grünen Augen und dem blauen T-Shirt, das so jung hatte sterben müssen und dem er mit eigener Hand den Todeskuchen gereicht hatte. Sechs Wochen lang verharrte das Mädchen in seiner Erinnerung, sechs Wochen, in denen er sonst vielleicht die tägliche Folter, den Schmutz des Gefängnisses, die Schreie und das Weinen der Häftlinge, die Beleidigungen der oft betrunkenen Folterknechte nicht ertragen hätte. Nicht das Klappern der Tamburine, nicht das Trommeln der nationalen Volkstanzgruppe – ein Lärm, der durch ein kleines, dachnahes Fenster hoch in der Mauer des Volkssaales im Nachbargebäude an sein Ohr drang –, nicht den Ruf des Muezzins, der aus der kleinen Moschee des Verteidigungsministeriumszu hören war, die ein Teil der geheimen Folterkammern des militärischen Abschirmdienstes war.
    Das Gesicht des Mädchens begleitete ihn Tag für Tag und machte ihn noch hoffnungsloser. Es war, als sagte er: »Es ist kein Schaden, ich habe meinen Preis schon bezahlt.« Zuweilen konnte dies seinen Zorn nicht stoppen. Dann beherrschte ihn der Gedanke, dass sie auch das Mädchen folterten. Sie schrie die Folterknechte an, dass Jussif unschuldig sei, dass sie ihn nicht töten sollten, dass er niemandem etwas Böses angetan habe! Das war sie. Er fühlte, wie sie sich an seine Stelle versetzte. Wenn er mit sich selbst sprach, faselte er dummes Zeug. Es war vollkommen abwegig, ein Kind zu verhaften oder zu foltern. Aber er hörte mit seinen Selbstbezichtigungen auf, als er sah, wie sie in einer sehr kalten Nacht fünf kleine Jungen ins Gefängnis brachten, sieben, acht, neun, elf und dreizehn Jahre alt. Wie Müll warfen sie sie in die Zelle. Ihm und seinen Kameraden wurde gesagt: »Wehe, ihr gebt ihnen Decken oder sonst etwas zum Schlafen.« Sie schliefen nämlich auf Matratzen, die unmittelbar auf dem kalten Boden lagen. Doch in jener Nacht fand Jussif überhaupt keinen Schlaf. Als der Morgen graute und der Lagerwächter sie weckte, bemerkte Jussif, wie sich der kleine Junge neben ihm – der jüngste der Brüder – die Augen rieb. Da sah er sich selbst wieder als Kind. Alle Leben ähneln einander, dachte er bei sich. Doch als der Kleine ihn mit zitternder Stimme fragte: »Fangen sie gleich an zu foltern, Onkel?«, wandte er sich ab. Er wollte den Jungen nicht weinen sehen. Er wusste, dass sie einander ähnlich waren, wie sie auch dem draußen sitzenden kleinen Mädchen ähnelten. Alle Leben ähneln einander, wir müssen nur in den Gesichtern der Kinder lesen. Er wusste nicht, was später mit dem Jungen geschah, weil er und seine Kameraden noch am selben Tag aus der Haft entlassen wurden. Man hatte beschlossen, sie in den Norden des Landes, nach Kurdistan, zu schaffen, jeden in eine andereRichtung. Ihm eröffnete man, dass er einen Versetzungsbefehl vom Wehrbereich Muhawail in den Wehrbereich Sandschar im Norden des Landes erhalten werde. »Besser, du stirbst von der Hand eines deiner Freunde im Norden, eines Kurden. Für dich ist auch nur eine Patrone zu schade«, höhnte der Geheimdienstoffizier laut lachend und voll böser Ironie.
    Jetzt erinnerte sich Jussif, dass das Mädchen mit der abgenutzten blauen Bluse nicht mehr vor dem Ministerium saß, als er nach sechs Wochen wieder auf die Straße trat. Er sah nur die Alte. Sie sprach laut vor sich hin. Mit dem Finger zeigte sie auf das Tor zur »Medizinstadt« und klagte: »Mein Töchterchen ist krank! Sie hat niemanden auf der Welt, all ihre Verwandten sind bei Bombenangriffen ums Leben gekommen. Bitte helft mir!« Er hätte sie gern nach dem kleinen Mädchen gefragt, aber er fürchtete, den Verdacht der Wache auf sich zu lenken und wieder verhaftet zu werden. Der letzte Satz, den er im Gefängnis gehört hatte, war: »Begebt euch ganz natürlich nach

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