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Just Kids

Titel: Just Kids Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patti Smith
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Französisch anzuschreien. Ich entschuldigte mich, dass ich ihre Sprache nicht verstand, doch ich ahnte, was sie meinte. Sie schaute erst angewidert das Grab an, dann mich. All diese jämmerlichen Liebesgaben und die Graffitis ringsum waren für sie nichts als Grabschändung. Vor sich hin brummelnd schüttelte sie den Kopf. Ich war erstaunt, dass ihr der mittlerweile sintflutartige Regen überhaupt nichts auszumachen schien. Plötzlich schaute sie mich an und keifte auf Englisch: » Américaine! Warum ehrt ihr eure Dichter nicht?«
    Ich war hundemüde. Ich war sechsundzwanzig Jahre alt. Um mich herum zerflossen mit Kreide hingeschriebene Botschaften wie Tränen im Regen. Unter den Glücksbringern, Zigaretten und Gitarrenplektren bildeten sich kleine Rinnsale. Auf dem Fleckchen Erde, unter dem Jim Morrison lag, schwammen Blütenblätter davon wie Überreste von Ophelias Bukett.
    » He!«, kreischte sie erneut. »Antworte mir, Américaine! Warum achtet ihr jungen Leute eure Dichter nicht?«
    » Je ne sais pas, Madame«, antwortete ich und senkte den Kopf.
    »Ich weiß es nicht.«

    An Rimbauds Todestag gab ich die erste meiner »Rock und Rimbaud«-Performances, wozu ich mich wieder mit Lenny Kaye zusammentat. Sie fand auf dem Dach des Le Jardin im Hotel Diplomat am Times Square statt. Der Abend begann mit dem Kurt-Weill-Klassiker Speak Low, zu Ehren von Ava Gardners Darstellung der Göttin der Liebe in Venus macht Seitensprünge, begleitet vom Pianisten Bill Eliott. Auf dem Programm standen Lyrik und Songs, die alle um meine Liebe zu Rimbaud kreisten. Lenny und ich kamen noch einmal auf die Stücke zurück, die wir schon in St. Mark’s gebracht hatten, ergänzt durch Hank Ballards Annie Had a Baby. Wir schauten uns unser Publikum an und waren verblüfft, dass Leute von Steve Paul bis Susan Sonntag gekommen waren. Zum ersten Mal kam mir der Gedanke, dass es kein einmaliges Ereignis bleiben musste, dass wir das Potenzial hatten, darauf etwas aufzubauen.
    Wir wussten allerdings nicht recht, wohin wir damit sollten, da das Broadway Central nicht mehr existierte. Was wir machten, war derart schwer klassifizierbar, dass die herkömmlichen Auftrittsorte dafür ungeeignet schienen. Aber die Leute kamen ja, und ich war überzeugt, dass wir ihnen durchaus etwas zu bieten hatten. Und ich wollte, dass Lenny von nun an fest mit von der Partie war.
    Jane tat ihr Bestes, um uns Auftritte zu verschaffen, aber es war nicht einfach. Gelegentlich trug ich meine Gedichte in irgendwelchen Bars vor, musste mich da aber die meiste Zeit mit betrunkenen Stammgästen herumschlagen. Diese Erfahrungen schultenzwar meine Schlagfertigkeit, die bald Johnny Carson Konkurrenz machen konnte, trugen aber kaum dazu bei, Lyrik unters Volk zu bringen. Lenny war mit an Bord, als ich das erste Mal in der West End Bar auftrat, wo Jack Kerouac und seine Kumpels einst geschrieben und getankt hatten, wenn auch nicht unbedingt in dieser Reihenfolge. Wir verdienten zwar kein Geld, doch am Ende des Abends überraschte uns Jane mit einer tollen Neuigkeit: Man hatte uns angeboten, am Jahresende das Vorprogramm für Phil Ochs im Max’s Kansas City zu bestreiten. Lenny Kaye und ich würden unsere Geburtstage, die beide Ende Dezember lagen, und den Silvesterabend damit verbringen, unsere Fusion von Rock’n’Roll und Dichterlesung auf die Bühne zu bringen.
    Es war unser erstes größeres Engagement, sechs Tage am Stück, zwei Sets pro Abend und drei am Wochenende. Trotz gerissener Saiten und einem mitunter feindseligen Publikum konnten wir uns behaupten, und das verdankten wir der Unterstützung durch einen bunt gemischten Haufen von Freunden: Allen Ginsberg, Robert und Sam, Todd Rundgren und Bebe Buell, Danny Fields und Steve Paul. Am Silvesterabend waren wir zu allem bereit.
    Ein paar Minuten nach Mitternacht standen Lenny und ich auf der Bühne des Max’s. Die Leute waren krakeelig, wussten nicht recht, was sie von uns halten sollten, und man spürte die Spannung in der Luft. Es war die erste Stunde des neuen Jahrs, und während ich mir die Menge anschaute, kam mir wieder in den Sinn, was meine Mutter immer zu sagen pflegte. Und das sagte ich dann auch zu Lenny: »So wie heute, so der Rest des Jahres.«
    Ich schnappte mir das Mikro. Er haute in die Saiten.
    Kurz darauf zog ich mit Allen um in die MacDougal Street, gegenüber vom Kettle of Fish im Herzen des Village. Allen ging wieder auf Tour, und wir sahen nur wenig voneinander, aber ich wohnte gerne dort und

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