Kalle Blomquist
Ausmaß hatte Nicke sicher noch nie über sich ergehen lassen müssen. Sie nahm und nahm kein Ende, jedenfalls nicht, bevor sich Rasmus einmischte.
»Daß du so ungerecht sein kannst, Peters«, sagte er. Kalle konnte die kleine feste Stimme so deutlich hören, als wäre er selbst im Zimmer. »Immer und immer bist du ungerecht. Nicke kann doch wohl nichts dafür, wenn ich die Tür abgeschlossen und den Schlüssel zum Fenster rausgeworfen habe.«
Peters antwortete nur mit einem dumpfen Gebrüll. Dann schrie er Nicke an: »Raus mit dir und den Kerl gesucht! Ich werde sehen, ob ich den Schlüssel finde.«
Kalle zuckte zusammen. Wenn Peters den Schlüssel suchte, konnte er seinem Versteck gefährlich nahe kommen, ganz gefährlich nahe.
Es war wirklich ein Hundeleben. Praktisch mußte man jeden Augenblick mit neuen Gefahren rechnen. Kalle dachte und handelte schnell. Er hörte, wie Nicke fortrannte und Peters die Tür abschloß. Zur selben Zeit verließ er sein Versteck und sprang hinter einen dicken Baum. Und als er Peters um die Hausecke biegen sah, lief er lautlos zum Eingang, den Peters gerade verlassen hatte. Kalle nahm den Türschlüssel aus der Hosentasche, und zum unvorstellbaren Erstaunen von Eva-Lotte und Anders kam er durch die Tür, keine ganze Minute später, nachdem sie Peters und Nicke dort hatten verschwinden sehen.
»Nun bist du ruhig«, sagte Eva-Lotte mit leiser Stimme zu Rasmus, denn es sah aus, als wolle er sich zu Kalles unerwarteter Rückkehr äußern.
»Ich habe doch gar nichts gesagt«, brummelte Rasmus beleidigt. »Aber wenn Kalle …«
»Sch«, sagte Anders und zeigte warnend auf Peters, der draußen in allernächster Nähe des Fensters herumwühlte und deutlich verärgert war, dort keinen Schlüssel zu finden.
»Eva-Lotte, singe«, flüsterte Kalle, »damit Peters nicht hört, wenn ich die Tür zuschließe.«
Und Eva-Lotte stellte sich vor dem Fenster auf und sang aus vollem Hals:
»Glaubst du denn, daß ich ver-lo-o-o-ren bin, Noch lange nicht, oh-ho-ho nein, no-o-och lange nicht …«
Dieser schöne Gesang schien Peters keine rechte Freude zu bereiten. Er sah irritiert zum Fenster. »Ruhe mit dir!« schrie er und suchte dann weiter.
Mit einem Ast stöberte er im Gras unter dem Fenster herum und bog die Blumen beiseite. Sie konnten ihn still vor sich hin fluchen hören, denn einen Schlüssel fand er nicht. Dann gab er das Suchen auf und verschwand. Atemlos standen sie da. Horchten und warteten. Würde er nach Haus gehen oder zu ihnen zurückkommen und Kalle finden? Sie horchten, bis sie das Gefühl hatten, ihre Ohren stächen wie Hörrohre aus ihren Schädeln.
Horchten und hofften schon … Aber dann hörten sie doch Peters’ Schritte vor der Tür. Er kam zurück, o du guter Moses, er kam zurück! Sie starrten sich an, vollkommen aufgelöst, vollkommen bleich, vollkommen außerstande, einen klaren Gedanken zu fassen.
Kalle bekam zuerst seine Fassung wieder. Mit einem Schritt sprang er hinter den großen Vorhang, der die Waschgelegen-heit verdeckte, gleich danach wurde die Tür geöffnet, und Peters kam herein. Eva-Lotte blieb stehen und schloß die Augen.
Nimm ihn fort, dachte sie, nimm ihn fort, oder ich überlebe es nicht … Und wenn Rasmus jetzt anfängt zu reden …
»Ihr sollt Schläge kriegen, sobald ich Zeit habe«, sagte Peters. »Schläge sollt ihr bekommen, daß es nur so pfeift. Aber erst, wenn ich zurückkomme. Und wenn ihr euch bis dahin nicht völlig ruhig verhaltet, sollt ihr noch einmal so viel Schläge haben. Habt ihr verstanden?«
»Ja, vielen Dank«, sagte Anders.
Rasmus kicherte. Er hatte gar nicht auf das gehört, was Peters gesagt hatte. Er war nur von einem Gedanken besessen – daß Kalle hinter dem Vorhang stand! War das nicht das allerschönste Versteckspiel? Eva-Lotte folgte ängstlich seinem Mienenspiel.
Schweig, Rasmus, schweig, bat sie beschwörend in sich selbst.
Aber Rasmus hatte ihr inneres Gebet wohl nicht gehört. Er kicherte unheilverkündend.
»Warum kicherst du?« fragte Peters böse.
Rasmus sah ihn froh und geheimnisvoll an.
»Das wirst du niemals raten können …« fing er an.
»Diesmal wachsen aber besonders viele Blaubeeren hier auf der Insel!« schrie Anders mit hoher, sich beinahe überschlagen-der Stimme. Er hätte so gern mehr geschrien, aber in seiner Seelennot fiel ihm nichts mehr ein. Peters sah ihn voller Abscheu an.
»Willst du witzig sein?« fragte er. »Das kannst du dir sparen.«
»Haha, Peters«, fuhr Rasmus
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