Kalle Blomquist
die in Krypten, Gewölbe und Gefängnishöhlen führten. Diese Gänge sahen nicht so besonders verlockend aus, aber es war natürlich möglich, daß Onkel Einar aus reiner Vorsicht seinen Schatz irgendwo weiter hinten im Keller vergraben hatte. Und da konnten sie ein ganzes Jahr danach suchen. Wenn er ihn überhaupt in der Schloßruine versteckt hatte. In Kalle fing leiser Zweifel an zu keimen.
»An welcher Stelle hast du die Perle gefunden?« fragte Eva-Lotte.
»Dort, bei der Treppe«, sagte Kalle. »Aber da haben wir ja alles umgegraben.«
Eva-Lotte sank gedankenvoll auf die unterste Treppenstufe nieder. Die Steinplatte, die die unterste Treppenstufe bildete, war offenbar nicht befestigt, denn sie wackelte etwas, als sie sich darauf setzte. Eva-Lotte flog wieder hoch.
»Man kann wohl nicht annehmen …« fing sie an und griff mit eifrigen Händen um die Steinplatte. »Sie ist lose, seht doch bloß!«
Zwei Paar Arme kamen ihr zu Hilfe. Die Steinplatte wurde zur Seite geschoben, und eine Menge Mauerasseln krochen schnell nach allen Seiten hin fort.
»Grab hier!« sagte Kalle aufgeregt zu Anders. Anders nahm den Spaten und stieß ihn mit aller Kraft da nieder, wo die Steinplatte gelegen hatte. Etwas leistete Widerstand.
»Das ist natürlich ein Stein«, sagte Anders, und er zitterte etwas, als er seinen Finger hinunterstreckte, um nachzufühlen.
Aber es war kein Stein. Es war … Anders betastete mit erdigen Händen den Gegenstand – es war ein Blechkasten. Er hob ihn auf – es war genau der gleiche wie der Reliquienschrein der Weißen Rose.
Kalle brach das atemlose Schweigen.
»Nu schlägt’s dreizehn«, sagte er. »Er hat unsern Kasten geklaut, der Dieb!«
Anders schüttelte den Kopf. »Nein, das ist nicht unsrer. Den habe ich vor einer Weile mit meinen eigenen Händen verschlossen.«
»Aber es ist genau der gleiche«, sagte Eva-Lotte.
»Dann – hat er ihn im Eisengeschäft gekauft, gleichzeitig mit der Taschenlampe«, sagte Kalle. »Sie haben solche Kästen im Eisenwarengeschäft.«
»Ja, da haben wir auch unseren gekauft«, sagte Eva-Lotte.
»Mach ihn auf, bevor ich einen Anfall bekomme«, sagte Kalle.
Anders befühlte den Kasten. Er war verschlossen. »Ob der gleiche Schlüssel für alle diese Blechkästen paßt?« Er riß den Schlüssel hoch, der an einer Schnur um seinen Hals hing.
»Oh«, sagte Eva-Lotte. »Oh!«
Kalle atmete, als ob er zerspringen wollte. Anders steckte den Schlüssel hinein und drehte um. Er paßte.
»Oh«, sagte Eva-Lotte. Und als Anders den Deckel hob: »Nein, nein – das ist ja … das ist ja wie in Tausendundeiner Nacht!«
»Ja, also so sieht das aus – Smaragden und Platin«, sagte Kalle andächtig. Da lag alles genauso, wie es in der Zeitung gestanden hatte. Broschen und Ringe und Armbänder und ein zerris-senes Perlenkollier mit Perlen, ganz genau wie die, die Kalle gefunden hatte.
»Hunderttausend Kronen!« flüsterte Anders. »Junge, das ist beinahe unheimlich!«
Eva-Lotte ließ die Juwelen zwischen ihren Fingern durch-gleiten. Sie nahm ein Armband und zog es über ihren Arm, und sie steckte eine Diamantbrosche an ihr blaues Baumwollkleid.
Sie zog einen Ring über jeden ihrer zehn Finger, und so geschmückt stellte sie sich vor die kleine Luke, durch die die Sonne hereinströmte. Es glänzte und funkelte um sie herum.
»Oh, wie wunderbar! Bin ich nicht wie die Königin von Saba?«
»Wir haben jetzt keine Zeit mehr für so was«, sagte Kalle.
»Wir müssen eiligst von hier weg. Nehmt mal an, Onkel Einar kommt plötzlich auf die Idee, sich hierherzuschleichen und den Schrein auszugraben! Nehmt an, er kommt jetzt gleich! Das wäre ungefähr ebenso angenehm, wie einem bengalischen Tiger zu begegnen, was?«
»Ich würde den Tiger vorziehen«, sagte Anders. »Aber Onkel Einar wagt nicht auszugehen, wie du weißt. Denn Krok und Redig stehen da und lauern ihm auf.«
»Für alle Fälle«, sagte Kalle, »müssen wir sofort zur Polizei.«
»Polizei!« Anders’ Stimme drückte höchstes Mißvergnügen aus. »Du denkst wohl nicht, daß wir die Polizei einmischen wollen, jetzt, wo es gerade interessant wird!«
»Das hier ist kein Krieg der Rosen«, sagte Kalle nüchtern.
»Wir müssen augenblicklich zur Polizei gehen. Die Schurken müssen verhaftet werden, das mußt du doch begreifen!«
Anders kraulte sich hinterm Ohr. »Könnten wir sie nicht in eine Falle locken und dann zur Polizei sagen: Hier, bitte, habt ihr drei prima Banditen, die wir für euch
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