Kaltduscher
Klasse. Ehrlich. Schlag nach…«
»Jetzt will ich dir mal was sagen, junger Mann.«
Gut, jetzt wird es also richtig ernst. Ich weiß nicht, wann mein Vater zum letzten Mal diese Worte gebraucht hat, aber seine »Jetzt will ich dir mal was sagen, junger Mann«-Ansprachen waren auf jeden Fall die mit Abstand dicksten Kaliber in seiner pädagogischen Waffenkammer. Da kann man nur den Mund halten und zuhören.
Das ist also jetzt die zweite Predigt für heute. Nur kann ich diesmal besser bei der Sache bleiben, weil es schließlich um mich geht. Meinem Vater kommt nun natürlich doch mein idiotischer Auftritt von gestern nach dem Theater wieder hoch und, ja, er hat recht, im Gottesdienst klatschen und zu johlen ist keinen Deut weniger schlimm, als sich im Theater in der Sitzreihe zu irren. Wenn er nachtragend wäre, würde er mir jetzt noch ankündigen, dass er mir zum nächsten Geburtstag das Buch »Die 100 selbstverständlichsten Sachen, die man im Gottesdienst nicht macht« schenken wird. Ist er aber nicht. Statt mir den letzten Hieb zu verpassen, geht er irgendwann nahtlos zu Onkel Heinz’ Predigt über. Nächstenliebe und die Verantwortung der Starken gegenüber den Schwachen. Verstehe. Das Thema liegt ihm anscheinend sehr am Herzen.
Mama entfernt sich langsam von uns und guckt sich Veranstaltungsblättchen an. Ich sehe aus den Augenwinkeln, dass Onkel Heinz bei ihr auftaucht. Mein Vater kriegt nichts davon mit. Er ist in Fahrt. Ist natürlich nicht schlecht, dass ich auf diese Weise doch noch Onkel Heinz’ Gedankengänge eingetrichtert bekomme. Dann stehe ich wenigstens nicht blank da, wenn er mich mal fragt, wie ich seine Predigt fand.
Irgendwann verschwindet Onkel Heinz mit meiner Mutter in der Kirche. Kurz darauf taucht er wieder auf und steuert auf uns zu.
»Heinz, mein Guter…«
»Ich will euch nicht stören. Ich wollte nur vorschlagen, geht doch hoch auf den Kuppelumgang. Dort oben seid ihr ganz ungestört, und die tolle Aussicht solltet ihr auf jeden Fall mitnehmen.«
Weia, wird hier jetzt unser kleiner Konflikt zum Event hochgejazzt? Mein Vater guckt kurz etwas unschlüssig, aber dann ist er von der Idee begeistert, seine Predigt auf dem Dach des Doms fortzusetzen. Onkel Heinz überreicht uns die Schlüssel und zeigt uns den Aufgang.
»Schließt ihr bitte hinter euch zu, damit keine anderen Leute hinterhergehen?«
»Okay.«
Ich nehme die Schlüssel. Während ich die alte eisenbeschlagene Tür hinter uns zuschließe, pirscht mein Vater schon die Treppen hoch. Ich schleiche mich hinterher. Die Höhenluft bessert seine Laune schlagartig.
»Weißt du, Oliver, vergessen wir jetzt mal den Ärger. Ich finde, zu dem Thema ist alles gesagt. Ich wollte noch was ganz anderes mit dir…«
»Naja, genaugenommen, hast du alles gesagt.«
»Oh, entschuldige. Wolltest du auch noch etwas sagen? Bist du anderer Meinung?«
»Nein, nein, also ich kann das alles ganz gut nachvollziehen: Der Starke und der Schwache, klar, das kann man auch ummünzen auf den Wissenden und den Unwissenden. Und Paradebeispiel, du gestern im Theater, ich heute im Gottesdienst, also das ist wirklich einleuchtend.«
Natürlich, was denn sonst. Meinen Vater freut es aber sichtlich, das zu hören.
»Aber jetzt mal abgesehen davon, ich wollte mich einfach bei dir entschuldigen. Ich war gestern irgendwie ziemlich angespannt.«
»Schon vergessen. Schwamm drüber.«
Wir sind angekommen, lehnen über der Brüstung und schauen auf die Stadt.
»In der Richtung liegt Lichterfelde, oder, Papa?«
»Ja…«
Hm, irgendwas ist da noch im Busch.
»Oliver, ich habe mir fest vorgenommen, dass ich dir heute etwas anvertrauen will, wovon ich dir nie erzählt habe.«
Sehr eigenartig seine Stimmung auf einmal. Er sieht mich nicht an, sondern starrt weiter Richtung Lichterfelde.
…
»Du weißt, dass ich in der achten Klasse von der Schule geflogen bin?«
»Na klar. Das war doch, weil du im Lehrerzimmer den Wassereimer über der Tür…«
»Nein, Oliver. Den Wassereimer hat es nie gegeben.«
Wie jetzt? Einer der wichtigsten Gründe, warum ich meinen Vater zeitweise wie einen Halbgott verehrt habe, war die Geschichte von diesem Wassereimer…
»Die Wahrheit ist, ich bin von der Schule geflogen, weil… ich mich dauernd geprügelt habe.«
»Okay.«
»Und zwar mit Schwächeren.«
»Okay.«
»Sie hatten keine Chance. Ich war brutal. Ich hab sie gegen die Wand geschleudert, sie mir gepackt und sie mit dem Kopf in die Toilette
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