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Kaltduscher

Kaltduscher

Titel: Kaltduscher Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Matthias Sachau
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spüren.
    »Hallo, Oliver. Na, gute Nacht gehabt?«
    »Wir wollten uns noch mal herzlich für den schönen Theaterabend bedanken. Hat uns wirklich Freude gemacht.«
    Er hat anscheinend schon völlig vergessen, dass ich so bratzig zu ihm war. Ob ich mich trotzdem noch mal entschuldigen soll? Vielleicht nach dem Gottesdienst…
    Wir schreiten feierlich durch das Eingangsportal. Kann mich nicht erinnern, wann ich zum letzten Mal in einem Gottesdienst war. Muss viele Jahre her sein. Und im Dom war ich bisher sowieso nur einmal kurz zur Besichtigung. Die Orgel legt los. Wow. Klingt ganz anders als das quäkende, notorisch verstimmte Ding bei uns früher in Lichterfelde. Voll ist der Dom ja nicht gerade heute, aber hier passen auch wirklich eine Menge Leute rein. Zwei komplette Blocks im Olympiastadion, würde ich schätzen. Oder zehn Koksergalerie-Partyvölker.
    Ich nehme mir vor, heute mal die ganze Predigt lang wirklich zuzuhören. Das hab ich als Kind nie geschafft, nicht mal bei Onkel Heinz. Heute kriege ich es hin. Bin ja schließlich nicht umsonst erwachsen.
    Erst mal wird gesungen. Die Gottesdienstprofis um mich herum haben natürlich schon vorher sorgfältig ihre Lesezeichenbändchen in ihre Gesangbücher eingelegt und müssen nicht hektisch herumblättern wie ich. Dafür steige ich dann bei der zweiten Strophe umso beherzter ein. Ist sowieso ganz gut, wenn ich für die Aufnahmeprüfung gleich schon mal die Stimme ein wenig anwärme.
    Das Vorgeplänkel ist bald vorbei. Onkel Heinz steigt auf die Predigtkanzel. Meine Ohren werden zu Scheunentoren. Zuhören, aufnehmen, mitdenken. Heute schaffe ich es. Er fängt an zu sprechen. Die ersten Sätze sind etwas zitterig. Komm, Onkel Heinz, mehr Präsenz, mehr Selbstbewusstsein. Nächstenliebe und die Verantwortung der Starken gegenüber den Schwachen ist doch ein super Thema… Jetzt kommt er in Fahrt. Ja, viel besser. Jetzt sind mehr Bässe in der Stimme. Die Raumakustik ist hier auch echt schwierig. Viel zu hallig für Sprache. Andererseits ist das Hallige natürlich wichtig für den Orgelsound. Da müssten sie eigentlich einen Effekt auf das Predigtmikro legen, obwohl, nein, Anti-Hall-Effekte gibts ja gar nicht. Da müsste man schon den Schall aus den verschiedenen Lautsprechern jeweils entsprechend dem Abstand zum Redner verzögern. Technisch sehr aufwendig. So wie es jetzt klingt, kann Onkel Heinz jedenfalls noch so sehr alles geben, hier würde nicht mal Martin Luther King kräftig rüberkommen. Wenn er das wenigstens ein bisschen mit Körpersprache ausgleichen würde. Sich bisschen im Takt wiegen und mal was mit der Hand machen…
    Weia, das darf doch nicht wahr sein. Onkel Heinz predigt jetzt schon seit fünf Minuten, und ich habe nicht mal den ersten Satz mitgekriegt. Na, mal sehen, vielleicht komme ich noch rein… Nächstenliebe und die Verantwortung der Starken gegenüber den Schwachen. Vielleicht stecken da ja auch ein paar Argumente für das Gespräch mit Wohlgemuth nachher drin. Verantwortung der Starken gegenüber den Schwachen – das wäre psychologisch eigentlich sehr geschickt. Ist sicher Balsam für seine Komplexe, wenn man ihm ausdrücklich die Rolle des Starken zuerkennt. Vielleicht sollten wir unsere Kommunikationstaktik völlig neu überdenken… Hihi, und man könnte ihn auch mal so völlig unerwartet fragen »Sind Sie eigentlich Christ?«…
    Verflixt, schaff ich es jetzt vielleicht doch noch mal zuzuhören? Nächstenliebe und die Verantwortung der Starken gegenüber den Schwachen… hoffentlich hat Julia keine Spuren von meinem Tritt ins Gesicht davongetragen. Ist schon wirklich wie verhext…
    Kann denn das wahr sein? Zwei Reihen hinter uns hat tatsächlich einer angefangen zu schnarchen. Hallo? Das ist immerhin Onkel Heinz. Und er hat ein super Thema. Also das ist doch wirklich der Gipfel. Wo ist die Security?
    So, jetzt höre ich dafür aber umso mehr zu…
    »… Amen.«
    Hm? Dreck, ich bin wohl auch kurz mal weggenickt. So, dafür jetzt aber…
    …
    Neiiiiiiiiin, das habe ich gerade nicht wirklich gemacht, oder?
     
    Wir stehen vor dem Dom, und ich lehne mit dem Rücken an der Wand. Das entspricht etwa auch der Position, die ich gerade im Gespräch mit meinen Eltern einnehme.
    »Versteh doch meinen Punkt, Papa. Natürlich weiß ich, dass man nach einer Predigt nicht klatscht. Ich war bloß schon so lange nicht mehr in einem Gottesdienst, verstehst du? Meine Reflexe sind inzwischen umkonditioniert. Verhaltenslehre, Bio-Grundkurs 12.

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