Kaltduscher
immer noch nicht da sind, verzieh ich mich. Er hat ja sicher auch genug zu tun, muss sein Zimmer einräumen und so weiter. Ich spüle zwei Gläser in der Glasspülanlage und beginne zu zapfen. Während das Bier läuft, überlege ich, dass ich Reto am besten gleich mal mit der Stammplatzsituation vertraut machen sollte, damit er sich von Anfang an dran gewöhnt, aber als ich mich umdrehe, hat er sich schon von selbst auf Hendriks Campingstuhl gesetzt, genau da, wo er letzte Woche auch schon saß, als wir Auswahlkomitee gespielt haben.
Er räkelt sich, sieht sich um und saugt jedes Detail auf. In seinem Blick liegt grenzenloses Wohlwollen. Ich finde ja unsere Küche auch ganz okay, aber so viel spontane Zustimmung habe ich noch nie erlebt. Als ich ihm das Bier reiche, beginnen seine Augen richtig zu leuchten.
Ich versuche alle Feierlichkeit aus diesen Momenten draußen zu halten. Reto scheint die gleiche Absicht zu haben, hebt das Glas andeutungsweise in meine Richtung und sagt, fast mehr zu sich selbst als zu mir, »zum Wohl«. Ich nicke zurück, und wir trinken beide, wie man eben trinkt, wenn man an einem warmen Sommertag unterwegs war. Die Zeit steht angenehm still. Hin und wieder sprechen wir ein paar Sätze.
»Was hast du jetzt eigentlich so vor in Berlin, Reto?«
»Nun, offen gesagt, irch weiß es noch nircht.«
Er guckt nachdenklich auf Rambo.
»Für mirch ist es schlussendlirch wirchtig, in einrch Stadt zu leben, wo derch Mensch nircht durch zu strenges Reglemong erstickchrt wird, der Rest wird sirch zeigen, odrch?«
Das hätte ein zeitgereister kalifornischer Hippie nicht besser formulieren können. Und man hätte sofort ein stilles Gebet für ihn gesprochen, dass ihn die Stadt nicht zehn Jahre später als kranke, gescheiterte Existenz wieder ausspuckt. Aber seltsam, bei Reto habe ich nicht den geringsten Zweifel, dass er schon bald irgendwas Gewaltiges reißen wird. Wer weiß, vielleicht spreche ich gerade mit dem künftigen Regierenden Bürgermeister. Ein Berliner Bürgermeister mit Schweizer Akzent. Das wäre doch mal etwas, wofür es sich zu leben lohnt.
Wir sprechen weiter, über die Stadt, über unsere Straße, über das Haus. Irgendwie mag ich sein Sprechtempo. Ruhig bis zum Anschlag, aber auch wieder nicht so langsam, dass es nervt. Ob er immer so ist? Oder liegt das nur daran, dass ihn das Hochdeutsch anstrengt?
Über die Bauarbeiterangriffe von gestern erzähle ich ebenso wenig wie davon, dass wir eigentlich schon beschlossen haben, uns nach einer neuen Wohnung umzuschauen. Im Moment ist sowieso kein Presslufthammer zu hören. Die Georgier sind wahrscheinlich ganz schnell über den Hof verschwunden, als vorhin die Polizeiwagen kamen.
Ich kündige noch vorsichtig Hendriks Ausstandsparty für heute Abend an und sehe an Retos Gesicht, dass diese Nachricht für ihn offensichtlich der letzte Baustein zum großen Glück ist. Danach verabschiede ich mich in mein Zimmer und mache die Tür schnell hinter mir zu, damit er die immer noch nicht aufgeräumte Bescherung von gestern nicht sieht. Vielleicht sollte ich mit dem Putzen noch einen Tag warten. Wichtig ist, dass man dem Staub lange genug Zeit gibt, sich abzulegen, sonst kann man am nächsten Tag gleich wieder von vorne anfangen. Ich werfe also nur die runtergekrachten Ziegelsteine durch das Loch in der Wand und widme mich dann wieder der geistigen Arbeit. Ich muss mich jetzt wirklich entscheiden, welchen Text ich bei der Schauspielschulen-Aufnahmeprüfung Montag in einer Woche zum Besten geben will.
Curtis Mayfield
Während ich mich unter den wilden Tänzern in meinem Zimmer tummle, beglückwünsche ich mich noch einmal zu den Entscheidungen des vergangenen Nachmittags. Es war eine gute Idee, nicht zu putzen. Erstens wäre nach diesem Abend eh alles wieder versaut gewesen, und außerdem hat Hendriks Ausstandsparty nun etwas, was noch keine andere Party der Stadt je gehabt hat: einen Dustroom. Je wilder sich die Leute bewegen, umso mehr Baustaub fliegt in die Luft, flirrt im Scheinwerferlicht herum und lässt sich auf den Tänzern nieder. Einige sehen schon aus wie Voodoo-Priester beim Gebetsritual, und meine zerrissene Hose passt perfekt zum Ambiente.
Außerdem war es eine gute Entscheidung, die Anfangsszene aus Becketts »Warten auf Godot« für die Aufnahmeprüfung auszusuchen. Das geht genau in die richtige Richtung. Kein Mainstream, aber trotzdem ein Klassiker. Damit komme ich bei der Auswahl-Jury weder als Langweiler noch als
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